"Das Tal der Blumen" von Niviaq Korneliussen

Stand: 15.01.2024, 12:00 Uhr

Dieser Roman ragt wie ein Monolith aus der Literaturlandschaft: Niviaq Korneliussen erzählt schonungslos über Selbstmorde in Grönland, dem Land mit der höchsten Suizidrate der Welt. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Niviaq Korneliussen: Das Tal der Blumen
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther.
btb Verlag, 2023.
288 Seiten, 24 Euro.

"Das Tal der Blumen" von Niviaq Korneliussen Lesestoff – neue Bücher 15.01.2024 05:36 Min. Verfügbar bis 14.01.2025 WDR Online Von Corinne Orlowski

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Der Friedhof ist von Eis und Schnee umgeben. Im Westen schirmt eine bis zu tausend Meter hohe Bergmauer das Tal ab. Die Sonne ist gerade untergegangen, alles glitzert pink. Eine junge Frau beobachtet einen Raben, der auf einem der vielen weißen Holzkreuze sitzt.

"Ich ließ meinen Blick auf dem Vogel ruhen, und für einen Moment vergaß ich völlig, dass die Sonne, die vor einer Viertelstunde untergegangen war, in wenigen Minuten erneut auftauchen würde. Der Rabe wachte über mich, bis das Tageslicht kam. Er wusste nicht, dass er mich vor dem Licht beschützen sollte, nicht vor der Dunkelheit."

Schon auf den ersten Seiten dieses Romans wird klar: Das kann nicht gut ausgehen für die junge Frau inmitten dieser atemberaubenden und zugleich einengenden Natur. Hier auf dem Friedhof, im Tal der Blumen, in dem im kurzen grönländischen Sommer tatsächlich Blumen blühen und im Winter grellbunte Plastikblumen auf den Gräbern leuchten, überkommt die namenlose Protagonistin eine tiefe Todessehnsucht.

"Ich trete zu einem Grab und hebe den Kranz an. Dort steht eine Nummer. Namenlose Gräber, begraben in Plastik. Es gibt drei neue blaue Gräber und zwei neue rote Gräber."

Die namenlosen Gräber gehören Selbstmördern. Tatsächlich ist Suizid ein wesentliches Problem in Grönland. Hier gibt es die höchste Selbstmordrate der Welt. Bei einer Bevölkerungszahl von 56.000 kennt wohlmöglich auch immer jemand die Toten und die Trauernden.

2019 waren es 45 meist junge Menschen, die sich das Leben genommen haben. Diese Zahl, 45, macht Niviaq Korneliussen zum strukturierenden Element ihres Romans. Unerbittlich wird runter gezählt von 45 zur 1, bis zum Tod der Ich-Erzählerin.

"Du warst eine tickende Zeitbombe. Alle schienen nur darauf zu warten, dass es dir gelingen würde, du konntest nicht gerettet werden, du konntest dich nicht selbst retten, weil keiner daran geglaubt hat, dass es dir gelingen würde."

Bis in die Sechzigerjahre war Selbstmord in Grönland eher selten. Erst mit Kolonialisierung der Dänen und dem Übergang der inuitisch-traditionellen in eine westliche, industrialisierte Gesellschaft haben die Suizide stark zugenommen.

Als 2021 Korneliussens Roman als wichtigstes Werk der nordeuropäischen Literatur geehrt wurde, betonte die Jury, dass sie darüber schreibe, wie es sich anfühle, Teil einer postkolonialen Gesellschaft zu sein. Und tatsächlich gibt sie einen spannenden Einblick in das moderne Leben der Grönländer.

"Man findet keine zweifelsfreie Erklärung dafür, warum die Leute sich umbringen, wenn die Mitternachtssonne kommt, eine Vermutung ist jedoch, dass viele depressiv werden, wenn sie zu wenig schlafen, (…) dass ebenjenes Licht, das die Winterdepression vertreibt, zu Selbstmord führt."

Korneliussens Protagonistin ist eine übergewichtige, ruppige junge Frau. Sie erträgt ihre eigenen Körper nicht, fühlt sich zerrissen. Wegen ihrer Homosexualität eckt sie an. Psychologisch betrachtet würde man bei ihr wohl von einer Borderline-Störung sprechen. Mal ist sie liebevoll, dann wieder zynisch und selbstzerstörerisch. Diese Zerrissenheit zeigt sich auch in der schnörkellosen Sprache Korneliussens, die mal zart und dann wieder derb und vulgär ist.

Ihre Protagonistin ist wild entschlossen, Grönland zu verlassen und zum Studieren nach Dänemark zu gehen. Doch hier trifft sie auf den arroganten Rassismus einiger Dänen, die sie mit dem Klischee des versoffenen, faulen Grönländers konfrontieren.

"'Aber du kommst aus Grönland, an die Kälte bist du bestimmt gewöhnt', meint er mit einem schiefen Grinsen. 'Das hier schützt mich.' Ich nehme mein Doppelkinn zwischen die Finger und lasse es wabbeln."

Wäre da nicht ihre große Liebe Maliina, die ihr Kraft gibt. Als sich Maliinas Cousine umbringt, ändert sich alles. Die Protagonistin möchte herausfinden, warum so viele junge Grönländer den Lebensmut verlieren. Dabei verliert sie ihren eigenen.

"Sollte dich jemals jemand fragen, ob du zum Mond möchtest, dann musst du antworten tulukkat qaqortippata, wenn die Raben weiß werden, sagte sie zu mir. Das heißt quasi niemals. Tulukkat qaqortippata. Es war ihre Lieblingsredewendung."

Niviaq Korneliussens Roman kommt wie ein moderner Totentanz daher. Das etwas trutschige Blumencover passt da so gar nicht zur Story. Denn beim Lesen gerät man schnell in einen Strudel, der nur einen Weg kennt: den in den Abgrund. Das ist mitreißend, intensiv und setzt einem am Ende ganz schön zu.