Susan Taubes: Klage um Julia
Aus dem Englischen übersetzt von Nadine Miller
Mit einem Vorwort von Francesca Wade
Friedenauer Presse, 333 Seiten, 28 Euro.
Wer erzählt da eigentlich in Susan Taubes Roman "Klage um Julia“? Ein Geist? Ein Teufel, der von einem Mädchen Besitz ergriffen hat? Ein undefinierbar übergriffiges Wesen, das langsam die Kontrolle verliert über das Geschöpf, das es zu formen und zu führen glaubt?
"Doch wie soll ich meine Rolle in dieser ernsten Farce auffassen? Soll ich vielleicht sagen, ich sei eine Art von Intelligenz? Zuweilen habe ich mir vorgestellt, ein himmlischer Funke zu sein. Ein gefallener Engel, wenn man so will; ohne jedoch auf weitere Einzelheiten einzugehen, woher gefallen, wie oder wieso, oder über die himmlische Heimat zu fabulieren, der ich ja noch angehören müsste."
Es ist eine äußerst dubiose und manipulative Stimme, die uns durch die Kindheitsjahre Julias führt, durch ihre Jugend bis hinein in ihr Dasein als junge Ehefrau. Zunächst herrscht ein harmonisches Miteinander, die "besten Jahre". Das "Geschöpf innerhalb eines Geschöpfes" liebt die daumenlutschende pummelige Julia zwar nicht sonderlich, aber immer mehr sieht es Potential in der Kleinen, investiert in das "hüpfende Rehkitz", mit dem es durch die Wälder tobt, dem es Märchen vorliest. Immer mehr versucht es, Julias Denken zu beherrschen, ihr Aussehen zu formen, sie von sich abhängig zu machen. Und immer mehr spürt es auch ihre Renitenz.
"Es war bestimmt nicht leicht, mit mir zu leben, aber mit Julia war es auch schwierig. Am meisten verletzte mich, dass sie nach unseren ärgsten Krisen einfach aufstand und hinausging zum Spielen, als wäre nichts geschehen."
Als Julia zur Frau wird, die "Turbulenzen" des "monatlichen Zyklus" einsetzen, verändert sich die Beziehung: Das übergriffige Alter ego fühlt sich zurückgewiesen, das Kind wird erwachsen, es heiratet gar. Das erzählende Ich versucht sich damit zu arrangieren, was gelingt, bis dann auch noch ein Liebhaber auftaucht, der jegliche Ordnung zu zerstören scheint. Es ist eine Pein, verbunden mit Eifersucht und moralischer Überheblichkeit, Sorge und Kontrollverlust.
"Ja, ich hätte sie damals verlassen sollen. Meine Kündigung fristgerecht einreichen. Soll sie sich doch ein anderes Gewissen suchen."
Ein anderes Gewissen: Tatsächlich ist dieser Erzähler wie ein Über-Ich, eine von tausenderlei Konventionen genährtes Wesen, das sich in Julia eingenistet hat und sie zu rekonstruieren sucht. Selten hat man eine so radikale Abrechnung mit patriarchalen oder überhaupt gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen gelesen wie in diesem Text: „Klage um Julia“ ist die literarische Darstellung des klaustrophobischen Gefühls, eine Frau in einem beengenden System zu sein – eine Entlarvung und ein Befreiungsschlag zugleich, hin zum radikalsten Schritt ins Nichts. Die Marionette beginnt, ihren eigenen Körper zu spüren. Und zugleich wird deutlich, wie vielschichtig und zerrissen dieser Körper ist. Er lässt sich nicht lesen, nicht zügeln, ebenso wenig wie das Denken sich beherrschen lässt. Was bleibt sind Erinnerungen, und selbst diese sind fragwürdig
"Und jetzt ist es zu spät. Ich habe sie verloren. Habe Julias Schönheit im Wasser verloren. Sie ist aus dem Bild herausgetreten und hat mich mit dem ganzen Chaos zurückgelassen. Manchmal kehrt sie für einen Moment zurück."
"Klage um Julia", übersetzt von Nadine Miller, wird ergänzt um einige zu Lebzeiten Taubes noch erschienene Erzählungen. Auch in diesen haben wir es mit Frauen zu tun, die sich aus der Umklammerung ihrer Über-Ichs zu befreien suchen – ob Therapeuten, Ehemänner, Väter, manchmal verkörpern sie alle drei Funktionen in einer Person. Auf teils dramatische Weise erleben die Protagonistinnen ihre Befreiung, verschiedene Bewusstseinszustände durchleidend. Taubes nutzt in ihrem Schreiben alltagsrealistische Szenarien ebenso wie traumhaft-halluzinatorische Bilder. Selten finden ihre Erzählerinnen aus den korsetthaften Zuschreibungen heraus; am ehesten noch löst sich die von außen ihnen aufgezwungene Identität auf, und zurück bleiben Bruchstücke eines Lebens. Es sind beeindruckende, verstörende Texte, die in "Klage um Julia" versammelt sind. Vielleicht können sie erst heute angemessen gewürdigt werden.