"In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung" von Tahir Hamut Izgil

Stand: 10.04.2024, 12:00 Uhr

In seinen "Uigurischen Notizen" liefert der Filmemacher und Lyriker Tahir Hamut Izgil beklemmende psychologische Innenansichten aus der chinesischen Überwachungs-Diktatur. Ein sehr persönliches Buch, das zugleich für Hunderttausende andere Schicksale spricht. Eine Rezension von Wolfgang Schneider.

Tahir Hamut Izgil: In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung. Uigurische Notizen
Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer.
Hanser, 2024.
272 Seiten, 25 Euro.

"In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung. Uigurische Notizen" von Tahir Hamut Izgil Lesestoff – neue Bücher 10.04.2024 05:48 Min. Verfügbar bis 10.04.2025 WDR Online Von Wolfgang Schneider

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Die Uiguren sind eine Minderheit im Westen Chinas, eine turksprachige Ethnie, die sich zum Islam bekennt. Seit langem übt China starken Druck auf sie aus und versucht, durch die massive Ansiedlung von Han-Chinesen die Uiguren in der Region Xinjiang zu marginalisieren. Seit 2016 hat die Unterdrückung noch einmal stark zugenommen: Deportationen, Arbeitslager, Folter, Zwangssterilisierung, Verbot der Religionsausübung. Die bestehenden Gefängnisse reichten nicht mehr angesichts der Massenverhaftungen.

"Innerhalb von nur ein paar Tagen hatte man Schulen, Ämter und sogar Krankenhäuser in ‚Studienzentren‘ umgewandelt und hastig mit Eisentüren, Gitterstäben vor den Fenstern und Stacheldraht versehen. Die Bevölkerung war starr vor Angst (…). Uns war klar geworden, dass es sich bei den ‚Studienzentren‘ um Konzentrationslager handelte. Man rief die Menschen an, bestellte sie ins Büro des Nachbarschaftskomitees oder aufs Polizeirevier, erklärte ihnen schlicht, sie müssten zum ‚Studium‘ und transportierte sie ab."

Tahir Hamut Izgil befürchtet, dass bald auch für ihn die Zeit solchen "Studiums" gekommen sei. Er erzählt in seinen „Uigurischen Notizen“ auf unprätentiöse Weise seine persönliche Geschichte, schreibt von den Ängsten seiner Familie, und man spürt bei der Lektüre, dass er damit zugleich für Hunderttausende andere spricht. Ab 2017 ist den Uiguren der Besitz religiöser Gegenstände und Bücher verboten.

Izgil schildert, wie die Menschen in seiner Stadt Urumtschi nachts aus den Wohnblöcken laufen, um ihren Koran schnell in irgendeinen Kanalschacht zu stopfen. Er beschreibt die ständige Angst vor Kontrollen. Sogar die Verkehrspolizei checkt mit Spezialgeräten auch die Mobiltelefone auf verdächtige Inhalte. Jeder Wohnblock hat seine Nachbarschaftspolizei, sein Nachbarschaftskomitee und junge Blockwarte, die prüfend von Wohnung zu Wohnung gehen. In unaufgeregtem Ton vermittelt Izgil beklemmende Einblicke in den hochtechnisierten chinesischen Überwachungsstaat.

Den wahren Horror deutet er aber nur an. Als er einmal wegen der Aufnahme von biometrischen Daten in ein Polizeirevier bestellt wird, hört er – wegen einer versehentlich nicht geschlossenen Tür – die Schreie eines Geschundenen und blickt kurz in eine leere Zelle:

"In der Zelle stand ein schwerer eiserner ‚Tigerstuhl‘ zum Verhören und Foltern von Gefangenen. Das Eisengitter, mit dem man den Oberkörper des Gefangenen im Stuhl fixierte, stand offen, die Eisenringe für Hände und Füße hingen zu beiden Seiten herab."

Izgil beschreibt, wie Menschen unter der ständigen Drohung leben, verhaftet zu werden, bevorzugt zur Nachtzeit, wie sie sich mit List durch den schikanösen Alltag lavieren, wie sie sich selbst vorauseilend überwachen und womöglich verfängliche Dokumente von Handys und Computern löschen, wie sie in codierter Sprache von den neuesten Schrecknissen sprechen und wie sie sich mit Beamten oder Polizisten anzufreunden versuchen in der Hoffnung, dies könnte einmal von Vorteil sein.

Unter den Vorwand, dass seine Tochter eine spezielle medizinische Behandlung in den Vereinigten Staaten benötige, gelingt Izgil mit seiner Familie 2017 die lange geplante Flucht – nach einem bürokratischen Hindernislauf sondergleichen. Das Glück des Entronnenen mischt sich aber mit dem Schuldgefühl gegenüber den Freunden und Bekannten, denen dieses Glück nicht zuteilwurde und die in den folgenden Jahren einer nach dem anderen entrechtet, verhaftet und deportiert werden.

"Die Qualen der Menschen, die ich liebte, wollten mir nicht aus dem Kopf. Mein Cousin, schwach und ausgezehrt in seiner Zelle; Eli, vornübergebeugt in einem Verhörraum; Almas bei der politischen Umerziehung; Arman, gezwungen, in einer Baumwollfabrik zu schuften; Ismail mit einer Gruppe Mitgefangener im Hof des Lagers, wie er rote Hymnen zum Lobe der Partei schrie."

Die Verbrechen an den Uiguren bekommen von Seiten der muslimischen Weltgemeinschaft wenig Aufmerksamkeit. Denn China passt nicht ins Feindbild – als Supermacht, die bisweilen selbst noch zu den vormals vom Westen kolonisierten Schwellenländern gezählt wird. Izgils Buch hat durch die Vermittlung und die Übersetzung des Historikers Joshua L. Freeman, die auch die Grundlage der deutschen Fassung ist, Aufmerksamkeit zuerst in der englischsprachigen Welt gefunden – und nun hoffentlich auch in Deutschland. Denn die psychologischen Innenansichten aus der Diktatur machen diese Lektüre zum Ereignis.