"Wellness" von Nathan Hill

Stand: 01.02.2024, 12:00 Uhr

Mit Placebos gegen Eheprobleme? Nathan Hill erzählt von der Liebe in der hyperliberalen Moderne und wie die Generation X in der Midlife-Crisis alles infrage stellt. Ein entlarvendes wie unterhaltsames Hörbuch über Manipulation und Selbstheilungskräfte – opulent erzählt und beeindruckend in Szene gesetzt. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Nathan Hill: Wellness
Gelesen von Uve Teschner.
Osterwold Audio, 2024.
Download, 21 Std. und 10 Min. Laufzeit, 23 Euro.

"Wellness" von Nathan Hill Lesestoff – neue Bücher 01.02.2024 05:22 Min. Verfügbar bis 31.01.2025 WDR Online Von Corinne Orlowski

Download

Romantischer kann eine Liebesgeschichte Ende des 20. Jahrhunderts kaum beginnen. In einem rauen Viertel in Chicago wohnen ein Mann und eine Frau, die sich gegenseitig in die Fenster schauen. Heimlich beobachtet er sie und sie ihn.

"Da war sie, richtete sich ein. Ihr Fenster war dem seinen so nah, sie war ihm so nah – man hätte die Kluft zwischen ihren Wohnungen mit einem beherzten Sprung überwinden können, dass er ein, zwei Meter zurückwich und sich im Dunkeln verbarg. Beide haben das Licht gelöscht. Sie starren über die Gasse in eine dunkle Wohnung, und sie wissen es nicht, aber sie starren einander an."

So zeichnet Nathan Hill mit wenigen Strichen den Gründungsmythos der Beziehung von Elizabeth und Jack, die wie füreinander bestimmt zu sein scheinen. Und setzt damit einen Ausgangspunkt, von dem aus er die Umwälzungen unserer Zeit in den Blick nimmt, von der Vor-Internet-Euphorie bis zur informationsgesättigten Lethargie, Verschwörungstheorien und Optimierungswahn.

Dafür nimmt sich Hill seinen Raum, über 700 Seiten, was vorgelesen 1270 Minuten bedeuten. Die vergehen aber wie im Flug, so leichtfüßig und süffig erzählt er von einem modernen Ehepaar, das sich fremd wird.

"'Ich bin nicht unglücklich', sagte Elizabeth und tätschelte seinen Arm. 'Oder jedenfalls nicht abnorm unglücklich.' 'Nicht abnorm. Was heißt das?‘ 'Es heißt, dass ich genau so glücklich bin, wie in diesem Lebensabschnitt zu erwarten ist.' 'Und welcher Lebensabschnitt ist das?' 'Der Lebensabschnitt, der sich am unteren Ende einer u-förmigen Kurve befindet.'"

Der zauberhafte Teenspirit vom Kennenlernen 1993 ist zwanzig Jahre später verflogen. Und das ist die fundamentale Herausforderung, nicht nur der Generation X, also der heutigen Endvierziger, die hier auf unterhaltsame Weise porträtiert wird: Einst hat man sich das Ja-Wort gegeben und damit ein Versprechen, sich immer zu lieben.

Doch man verändert sich, ja, die Welt verändert sich. Jetzt sind sie die Eltern des achtjährigen Toby, es haben sich Heimlichkeiten eingeschlichen und sie schlafen getrennt. Aber das Bild, das die beiden voneinander haben, ist das gleiche geblieben. Nathan Hill entlarvt sie als Trugbilder.

Er, der Romantiker wird überfürsorglich, sie, die Rationale, überkommen Zweifel. Das hat mit Elizabeths Beruf zu tun. Sie leitet ein Institut namens "Wellness", das Placebos erforscht. Sie erfindet Geschichten, an die Menschen glauben können, und verkauft sie als Medizin.

"Aber Geschichten haben nur Kraft, solange man sie glaubt, und als Elizabeth in der Küche saß und Toby beim Essen zusah, fragte sie sich, ob ihre gemeinsame Geschichte nicht ebenfalls bloß ein hübsch herausgeputztes Placebo war, eine Geschichte, die sie beiden glaubten, wie sie sich dabei wie etwas Besonderes fühlten."

Nathan Hill hat seine Geschichte genial konstruiert. Jedes einmal erwähnte Detail wird irgendwann wieder aufgegriffen und mit Bedeutung aufgeladen. Auf der Zeitebene geht es hin und her, aber immer ums Eingemachte, ohne die Figuren dabei zu verlieren. Die Erzählstimme fokussiert mal Elizabeth, mal Jack, die sich bald den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen müssen.

Dabei arbeitet Hill – ganz die nordamerikanische Schule – mit viel Dialogen. Wie gemacht zum Vorlesen also. Und Uve Teschner nimmt die Einladung an. Er liest den Text mit viel Bedacht. Seine sonore Stimme nimmt einen über die vielen Stunden mit. Denn wie er stimmlich die Charaktere der Figuren unterstreicht, ist brillant. Mühelos switcht Teschner hin und her.

"'Ich verstehe das nicht. Ich meine, wenn die Ehe einen nicht mit Freude erfüllt, was soll’s dann?‘ 'Es heißt ja immer, eine Ehe ist schwierig, aber wenn es so schwierig ist, macht man wohl was falsch.‘ 'Genau.' 'Wenn es so schwierig ist, sollte man damit aufhören.‘ 'Ja! Wenn nicht jeder Tag eine Freude bringt, dann geh. Verschwinde.'"

Doch so einfach ist es natürlich nicht. "Wellness" zeigt eindrücklich, wie sich Beziehungen verändern. Fragt: Was ist Wahrheit? Was ist Liebe – und was wahre Liebe? Und stellt fest: alles eine Frage der Perspektive. Folgerichtig stellt sich Hill nicht auf eine Seite. Man solle glauben, was man will, sagt er in einem Interview. Aber man solle bedenken, dass die eigenen Überzeugungen auch nur eine konstruierte Geschichte sind.

So ist "Wellness" auch eine Einladung, die eigenen Ansichten zu hinterfragen. Ein opulentes Buch, das unserer Zeit auf die Schliche kommt und ein Hörbuch, das dies aufrichtig und warm inszeniert.