Han Kang: Unmöglicher Abschied
Aus dem Koreanischen übersetzt von Ki-Hyang Lee.
Aufbau, 2024.
315 Seiten, 24 Euro.
Vordergründig erzählt Han Kang in ihrem neuen Roman "Unmöglicher Abschied" die Freundschaftsgeschichte zweier Frauen: Gyeongha, die Erzählerin, ist Schriftstellerin – Inseon, Dokumentarfilmerin und Holzkünstlerin. Die eine lebt in Seoul, die andere weit entfernt auf der Insel Jeju. Dorthin war sie zurückgekehrt, um ihre demente Mutter zu pflegen, nach deren Tod ist sie geblieben.
"Als ich Ende Dezember eines Morgens eine SMS von Inseon erhalte, verlasse ich gerade den Spazierweg. Fast einen Monat lang lagen die Temperaturen unter null, und kein Laubbaum trägt mehr Blätter.
'Gyeongha.'
Inseons Nachricht besteht aus meinem Namen, der einsam auf dem Display steht.
'Ja, was ist?'
Dann warte ich eine Weile auf ihre Antwort. Gerade will ich meine Handschuhe wieder überstreifen, als sie eintrudelt.
'Kannst Du schnell zu mir kommen?'"
Die Verbindung der beiden ist lose, aber verbindlich. Natürlich kommt Gyeongha in die Spezialklinik in der Hauptstadt, in die ihre Freundin verlegt wurde, nachdem sie sich mit einer Säge zwei Finger abgetrennt und nur knapp überlebt hat. Inseon bittet Gyeongha um einen Freundschaftsdienst: Sie soll in ihr entfernt von allem liegendes Haus auf Jeju reisen, um einen kleinen Vogel zu versorgen, der ansonsten sterben wird. Die Fahrt soll Gyeongha möglichst noch am selben Tag antreten. Das Problem: Die sowieso schon komplizierte Reise ist nun auch noch hoch riskant, denn ein heftiger Schneesturm ist angekündigt.
"Zuerst dachte ich, es seien Vögel. Zehntausende weiß gefiederte Vögel fliegen dicht über den Horizont. Aber es sind keine Vögel. Ein starker Wind zerstreut für einen Moment die Schneewolken über dem fernen Meer. Flocken glitzern im Sonnenlicht, das zwischen sie fällt. Das vom Meeresspiegel reflektierte Licht wird damit vervielfacht und erzeugt eine optische Täuschung, als ob ein langes, blendend weißes Band von Vögeln über das Meer gezogen würde."
Da zieht der Sturm erst auf, es ist noch hell. Später wird es düster, nebulös, klirrend kalt. Die Geschichte entwickelt sich zu einer schaurigen Winterreise. Und in dieser seltsam unbestimmten, surreal-magischen Atmosphäre, überhaupt in der entrückten Stimmung der Insel, tun sich plötzlich andere Welten auf. Zwischenwelten. Verborgene, verdrängte Ereignisse werden sichtbar; das Dunkle unter der sonst so friedlich scheinenden Schneedecke, die eigentlich ja alles wattig entrückt.
"Dunkelheit. Dunkelheit ist das Einzige, woran ich mich erinnere. Jedes Mal, wenn ich erwachte und meine Augen öffnete, nachdem ich doch eingenickt war, war ich zunächst verwirrt. Erst nach einer Weile begriff ich, dass ich nicht zu Hause war, sondern in der Höhle, und mein Vater, den ich nicht sehen konnte, noch immer meine Hand hielt. Ohne diese Hand hätte ich zu schreien begonnen."
Im Kern erzählt Han Kang von den Massakern gegen vermeintliche Regierungsgegner, die sich im Jahr 1948 auf der Insel Jeju tatsächlich ereignet haben, auch die Familie der Freundin war betroffen, mit Folgen über die Generationen hinweg. Zugleich umkreist und beleuchtet Han Kang, das ist typisch für ihr Werk, die Extreme dessen, was Menschlichkeit ausmachen kann, im Schlechten wie im Guten. Die universelle Ebene des Romans.
Eine Freundschaftsgeschichte, die Winterreise, starke weibliche Charaktere, die Magie der Bildebenen, die einfache, doch poetische Sprache, das sind die Mittel, mit denen Han Kang dabei so eigen wie ungeheuer versiert arbeitet. Die Mittel der Literatur, die das Unsagbare fassbar machen können – und damit vielleicht so etwas wie Heilung ermöglichen.
"Ich atme tief ein und reiße ein Streichholz an. Aber es fängt nicht Feuer. Ich versuche es erneut, aber das Hölzchen bricht. Ich taste nach dem abgebrochenen Stück, packe es, reibe erneut, und ein Flämmchen hüpft. Wie ein schlagendes Herz. Wie eine aufbrechende Knospe. Wie der kleinste Vogel der Welt, der seine Flügel ausbreitet."