Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marcel Beyer
Suhrkamp, 560 Seiten, 38 Euro.
"[Liebling Knospe (von Mai)] mit dem Stachel des Ginkgoblattes auf unseren Lippen fahren wir mit dem city liner vom Schwedenplatz nach Bratislava, wo Lida Jurinova uns erwartet ach wie ihre Seele uns be- grüszt – mein Begleiter hat 7 hartgekochte Eier mit- gebracht : 1 kl.Mitbringsel : WIESO? wir haben Lida Jurinova lange nicht gesehen!"
So beginnt das letzte Gedicht von Friederike Mayröcker. Datiert ist es auf den 15. Januar 2021. Doch das, darf man wohl sagen, spielt eigentlich keine Rolle. Wer im Alter von 96 Jahren noch so frische, ebenso ungebändigte wie unverkennbare Texte verfasst hat, hätte wohl einfach weitergeschrieben, wäre am Ende nicht doch der Tod dazwischengekommen.
"die Anemone oder süszer Mohn ach rot zerknittert gelb gerüscht am Fenster wo der Südwind flüstert mit Ästchen im verhüllten Himmel= Weltzärtlichkeit. (Keinem meiner Werke liegt ein Plan zugrunde!)."
Mit dem Wort "Weltzärtlichkeit" ist viel von dem erfasst, was das Werk der Mayröcker auszeichnet. Es ist ein Fest, dass mit den Gesammelten Gedichten 2004 bis 2021 jetzt auch ihre spätesten Texte in einem Band zusammengetragen sind, darunter eine Reihe verstreuter und bislang unveröffentlichter. Marcel Beyer, dem manches Gedicht in diesem Buch gewidmet ist, hat das Material in drei Kapiteln versammelt und mit einem kundigen Nachwort versehen.
"Bach Klavier solo ist Heiland, in meinem verwelkenden Zustand fast keine Flamme mehr und die Funken und Wolken be- wegen sich kaum bin tief gebeugt, die glühendst frz.Berge im hin- gerissenen Blick und Wind Ohr. Die grüne Wildnis des Fensters vis à vis und I Vermeer, so Marcel Beyer . . musz andere Musik einkaufen vielleicht Sonny Rollins"
"Proëme" nannte die Mayröcker ihre späten Prosagedichte, ein 1948 von dem französischen Lyriker Francis Ponge geprägtes Wort aufgreifend. Es handelt sich um hochkonzentrierte Texte, die sich nicht um Gattungsgrenzen scheren und von Satzzeichen und Typografie großzügig Gebrauch machen. Der poetische Eigensinn der Mayröcker ist von einer solchen Lebendigkeit getragen, dass sich ihre unbeirrbare Schreibweise einfach nicht verbraucht, sondern bei der Lektüre immer wieder neues Erstaunen hervorruft.
"damals, in getrennten Hotelzimmern, auf dem Korridor, 1 Flüstern zusammen 1 Küssen und Gute Nacht, diese Erinnerung, damals, nach einem düsteren Tag"
"für Ernst Jandl" steht unter diesen knappen Zeilen – eine der vielen Referenzen an den mehr als zwei Jahrzehnte vor ihr verstorbenen Gefährten. Den dichterischen Dialog mit Jandl setzte die Mayröcker bis in ihre letzten Jahre hinein fort:
"1 Bleistift Stummel zwischen seinen Fingern am Bleistift Ende 1 eraser in meiner schwarzen Jacke fand ich das Gerät das er gebrauchte schräg geneigten Kopfs über dem Schreibpapier, mit Passion am reingefegten Tisch Notizbuch Weinglas und Tabletten"
Es sind, man muss es einmal so sagen, einfach sehr coole Texte, die Friederike Mayröcker hinterlassen hat. Und dass der Suhrkamp Verlag bei diesem Buch einen Umschlag wählte, der an ein altes Jazzplattencover erinnert, hätte ganz gewiß das Plazet der Poetin erhalten:
"an jenem Februartag in der Stille der Abenddämmerung sang 1 Vogel er sang für mich und er sang für dich, ich sah dich mit 1 Zigarette an 1 Tisch im Café die Arme aufgestützt vor dich hinblickend. Als du aufstandest die Kappe nahmst erkannte ich du warst 1 fremder Mann, die Augen auf mich gerichtet (der chapeau in der Flugzeughalle : Miles Davis in sich ver- sunken mein Freund der bleiche Mond der mich umfing)"