Weihnachten mit Hermann Hesse. Gedichte und Betrachtungen (Hörbuch)
Ungekürzte Lesung mit Ulrich Noethen.
Der Audio Verlag, 2024.
1 CD (Laufzeit: 1 Stunde und 20 Minuten), 15 Euro.
Weihnachten – für viele Menschen ist es die Zeit der Rückblicke, oft gepaart mit einer gewissen nostalgischen Färbung. Auch bei Hermann Hesse.
"In Weihnachtszeiten reis’ ich gern
Und bin dem Kinderjubel fern
Und geh’ in Wald und Schnee allein.
Und manchmal, doch nicht jedes Jahr,
Trifft meine gute Stunde ein,
Dass ich von allem, was da war,
Auf einen Augenblick gesunde.
Und irgendwo im Wald für eine Stunde
Der Kindheit Duft erfühle tief im Sinn
Und wieder Knabe bin..."
Hermann Hesse zählt zu jenen Autoren, die ihr Publikum spalten. Die einen lieben seine Werke, weil sie ihnen das Tor zur Weltliteratur öffnen, den anderen ist er ideologisch verdächtig. "Teils ausgelacht, teils angespuckt, teils den sentimentalen Leserkreisen überlassen", so schreibt Hesse selbst, ein Jahr nachdem ihm 1946 der Literatur-Nobelpreis zuerkannt worden war. Doch von diesem Für und Wider ist auf dem Hörbuch mit Ulrich Noethen wenig bis nichts zu spüren.
"Als ich ein Knabe war, in Weihnachtszeiten,
Wie war ich selig da und unersättlich,
Im Duft der Kerzen mit dem neuen Spielzeug
Zu spielen unterm Tannenbaum: dem Ross,
Dem Bilderbuch, der Eisenbahn, der Violine!"
Hermann Hesse blickt mit einer Mischung aus Melancholie und Freude auf seine eigenen weihnachtlichen Erinnerungen zurück. Er selbst ist in einem streng pietistischen Haus großgeworden, geprägt von Arbeitsdisziplin und einem tiefen religiösen Glauben.
"Es war in unsrem Vaterhaus in Calw, und es war Weihnachtsabend im 'schönen Zimmer', die Kerzen brannten am hohen Baum, und wir hatten das zweite Lied gesungen. Der feierlichste und höchste Augenblick war schon vorüber, der war das Vorlesen des Evangeliums: da stand unser Vater hoch aufgerichtet vor dem Baum, das kleine Testament in der Hand, und halb las er, halb sprach er auswendig mit festlicher Betonung die Geschichte von Jesu Geburt: 'und es waren Hirten daselbst auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde…'"
Was auf den ersten Blick feierlich-friedlich wirkt, entpuppt sich in Hesses eigenem Rückblick als ein Moment des Fragens, ja vielmehr des nachträglichen Hinter-Fragens. Das Kind Hermann nimmt das allerdings anders wahr.
"Ist’s auch eine Freude,
Mensch geboren sein?
Als Kind hatte ich Jahr um Jahr über das Fragezeichen hinweggesungen und war überzeugt gewesen, dass das 'Mensch geboren sein' wirklich eine Freude sei, zumal an Geburtstagen. Und so waren wir auch heut, an diesem Christabend, alle von Herzen fröhlich."
So paart sich auf diesem Hörbuch Besinnliches mit Nachdenklichem, kindlich-Märchenhaftes mit der Grübelei eines Erwachsenen. Sprecher Ulrich Noethen ist dafür mit seinem moderaten Vortragstempo, mit seinen überlegten Pausen, seinen sanften Modulationen, ein idealer Vermittler – auch wenn Hesse über Weihnachten in Kriegszeiten räsoniert, etwa im Dezember 1917. Noethen lässt immer ein latentes „Aber“ mitschwingen.
"Auch früher schon […] bekam ich an Weihnachten je und je leise Widerstände, bekam einen etwas unangenehmen Geschmack auf der Zunge zu fühlen, wie bei einer Sache, welche zwar hübsch, aber nicht ganz echt ist. […] Jetzt, da die vierte Kriegsweihnacht kommt, ist der Geschmack auf der Zunge unüberwindlich geworden. Gewiss, ich feiere Weihnacht, weil ich Kinder habe, die ich nicht um eine Freude bringen will."
Noethens Stimme drängt sich nicht auf, sie verfällt nie in einen seicht-beweihräuchernden Plauder- oder Gefälligkeitston. Man merkt: Ulrich Noethen nimmt jede Zeile ernst und verleiht ihr mit kleinen Nuancen die entsprechende Stimmung, wie in „Winternacht“, einem Gedicht von 1921.
"Meiner Kindertage denk ich nun,
lang vergessener Märchenton erwacht:
Glocken läuten und auf Silberschuhn
Geht das Christkind durch die weiße Nacht."
"Weihnachten mit Hermann Hesse. Gedichte und Betrachtungen" – das neue Hörbuch ist, nicht nur an den Festtagen selbst, eine zwar winterliche, aber erwärmende Empfehlung.