"Weltalltage" von Paula Fürstenberg

Stand: 12.02.2024, 12:00 Uhr

Paula Fürstenbergs Roman erzählt von kranken Körpern und liefert dabei Vieles: eine sprachliche Neuvermessung, eine gesellschaftspolitische Ursachensuche und nicht zuletzt eine Kampfansage. Eine Rezension von Hannah Rau.

Paula Fürstenberg: Weltalltage
Kiepenheuer & Witsch, 2024.
320 Seiten, 23 Euro.

"Weltalltage" von Paula Fürstenberg Lesestoff – neue Bücher 12.02.2024 05:51 Min. Verfügbar bis 11.02.2025 WDR Online Von Hannah Rau

Download

Paula Fürstenbergs neuer Roman ist ein Versuch. Das gibt der Text selbst unverhohlen zu, wenn er in seine Geschichte mit einer "Liste möglicher Anfänge" eintaucht.

Es ist der Versuch, eine Form zu finden für die Geschichte eines Depressiven, ohne die Figur auf seine Erkrankung zu reduzieren oder sie gar in der Depression aufgehen zu lassen. Und es ist der Versuch, die Geschichte des kranken Max aufzuschreiben, ohne ihn zu verraten oder aus seinem Leid Profit zu schlagen.

"Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespräche in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest. Da hatten Max und du überhaupt noch wenig Ahnung, welche Schwierigkeiten sich ergeben würden durch die bloße Tatsache, zunehmend lange auf dieser Welt zu sein."

Max und die namenlose Erzählerin verbindet, dass sie als Kinder alleinerziehender Mütter in der Nachwendezeit früh lernen, ohne erwachsene Hilfe klarzukommen. Etwa wenn die Erzählerin nicht mehr schwimmen gehen oder Fahrradfahren darf, da sie an einer undiagnostizierten Schwindelerkrankung leidet.

Dann beschließt Max ohne großes Aufsehen, den Rettungsschwimmer zu machen und ein Lastenrad zu bauen, in dem er seine Freundin auch noch durch die Stadt kutschiert, als die beiden längst erwachsen sind und sich eine Wohnung in Berlin teilen.

Doch als Max Onkel sich erhängt, geraten die etablierten Rollen der Freunde ins Wanken: Plötzlich ist Max der Kranke. Die Protagonistin weiß seiner Depression nicht anders zu begegnen als literarisch.

"Irgendwie seltsam, sagte Max, noch bevor ich auch nur drei Gedanken aus meinem wirren Hirn aufs Papier bekomme, schreibst du schon meine ganze Geschichte auf. Es war das erste Mal, dass er einen Zweifel daran formulierte, dass du seine und eure Geschichte schriebst. Vielleicht hättest du den Zweifel (…) im Keim ertränken müssen, indem du nachgefragt und dich ehrlich für ihn interessiert hättest. Aber du gingst darüber hinweg, als hättest du gerade nicht zugehört."

"Wem gehört die Geschichte eines Kranken und wer darf wie davon erzählen?" Das sind die ethischen Konflikte, die Fürstenberg in "Weltalltage" geschickt inszeniert. Wenn sie etwa auf die Ich-Perspektive verzichtet und die Erzählerin stattdessen eine Du-Perspektive einnehmen lässt, trägt das nicht nur dem für Depressionen typischen fragilen Selbstkonzept Rechnung.

Zugleich spielt die Autorin mit den autobiografischen Leseerwartungen, die an Texte über psychische Erkrankungen gemeinhin herangetragen werden. So drängt sich beim Lesen die Frage auf, ob es Max wirklich gibt – oder ob er nicht eher ein Alter Ego der Autorin ist. Er übernimmt die Rolle eines Lektors, versucht korrigierend in das Manuskript einzugreifen, wenn die Figur des Kranken funktionalisiert oder ihr die Würde genommen wird.

"Dass Max dich bat, die Sache mit der vollgekackten Hose wegzulassen, war das erste Mal, dass er dein Manuskript nicht ergänzte, sondern einschränkte."

Die vollgekackte Hose bleibt und wird zum Beleg, wie schnell sich die Literatur schuldig macht. Doch nicht nur die Sprache wird in "Weltalltage" zur Verantwortung gezogen, sondern auch das Gesundheitssystem und die Gesellschaft generell. Das gelingt dem Text, indem er leichtfüßig von einer Liste zur nächsten hüpft.

Die Liste offenbart sich als selbst auferlegtes Strukturelement, als Disziplinierungsmaßnahme im Sinne einer therapeutischen Methode. Dadurch werden die Grenzen zwischen Autorin, Erzählerin und Protagonist erneut raffiniert verwischt. Zugleich ermöglicht die Form eine essayistisch anmutende Abhandlung verschiedener Zugänge zum Thema Körper.

Manchmal allerdings droht der Text dabei auszufransen und in ein identitätspolitisches Programm abzudriften. So forcieren die Einträge ähnlich wie Social Media Posts immer wieder eine moralisierende Pointe. Dann wird der Kuchenbasar in der Schule zur Lektion kapitalistischer Früherziehung umgedeutet und westdeutsche Altersgenossen aus wohlhabenden Familien als überbehütete "Gummistiefel-Kinder" abgestempelt.

"Eure Mütter waren oft in den Miesen, aber nie miese Mütter. Du erwähnst das lieber noch mal, weil Leute wie Frau Doppelname, die noch nie eine Platte von innen gesehen haben, immer davon ausgehen, dass dort nie ein Salat zubereitet wird."

Insgesamt aber ist Paula Fürstenberg mit "Weltalltage" gelungen, was die Erzählerin selbst einmal als Absicht formuliert: Nämlich einen Roman über die Auswirkungen von Geschichte und Gesellschaft auf den Körper zu schreiben – und zwar ohne dabei eine exhibitionistische Nabelschau zu betreiben oder sensationsgierig fremde Wunden zu lecken.