"James" von Percival Everett

Stand: 22.05.2024, 07:00 Uhr

Percival Everett erzählt Marc Twains Klassiker "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" neu – aus der Perspektive des Sklaven Jim, der sich nun James nennt. Dieser ist kein Simpel mehr, sondern ein kluger, entschlossener Mann. Eine dramatische Revision mit weitreichenden Folgen. Eine Rezension von Holger Heimann.

Percival Everett: James
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Hanser, 2024.
336 Seiten, 26 Euro.

"James" von Percival Everett Lesestoff – neue Bücher 22.05.2024 05:32 Min. Verfügbar bis 22.05.2025 WDR Online Von Thilo Jahn

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"Die Abenteuer des Huckleberry Finn" von Marc Twain sind ein wegweisendes Werk. Für Ernest Hemingway stammte die ganze moderne amerikanische Literatur von dem 1864 erschienenen Roman ab. Bei seiner Flucht vor dem gewalttätigen Vater auf einem Floß den Mississippi hinab durch ein von Gewalt und Rassismus geprägtes Land wird Huck von Jim begleitet, einem Schwarzen, der einem Leben in Sklaverei zu entkommen versucht.

Die anrührende Freundschaftsbeziehung zweier Außenseiter ist ein kraftvoller, von einem antirassistischen Impetus getragener Gegenentwurf zur amerikanischen Wirklichkeit jener Jahre. Und doch haftet der Figur des Jim ein "schwerwiegender Mangel" an, wie der Twain-Übersetzer Andreas Nohl zurecht kritisch angemerkt hat. Nohl hält fest, dass Jim "in seinen Reaktionen nicht als erwachsener Mann gezeichnet" wird.

Percival Everett hat Marc Twains Roman um- und neu geschrieben. Everett hält sich – zumindest im ersten Teil – eng an die von Twain erzählte Geschichte. Aber anders als bei diesem wird die Flucht nicht aus der Perspektive des Jungen, sondern aus der Sicht des Sklaven erzählt. Jim legt seinen Sklavennamen ab und nennt sich James. Vor allem aber ist er das Gegenteil von einem einfältigen und ungebildeten Mann. Er ist klug, handelt überlegt und überlegen.

"Diese weißen Jungs, Huck und Tom, beobachteten mich. Sie spielten immer irgendein Phantasiespiel, in dem ich entweder ein Schurke oder ein Opfer war, auf jeden Fall aber ihr Spielzeug. Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen, deshalb trat ich in den Garten und rief in die Nacht hinaus: 'Wersn das da draußn im Dunkeln?' Sie rumorten unbeholfen herum, kicherten."

Auch bei Everett spricht Jim – respektive James – in einem Dialekt, der unbeholfen und oft dümmlich klingt. Aber anders als bei Marc Twain ist das holprige Idiom nur Tarnung, eine Kunstsprache. Die Weißen sollen sich überlegen fühlen. Sie nicht zu verunsichern, ist überlebenswichtig für die Sklaven. Wenn diese sich untereinander unterhalten, tun sie das in einer makellosen Hochsprache. James, der sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat, unterrichtet andere darin. Mit Kindern übt der Erzähler in einer herausragenden Szene das richtige Verhalten gegenüber den Weißen.

"'Stellen wir uns vor, es ist ein Fettbrand. Mrs. Holiday hat Bacon unbeaufsichtigt auf dem Herd stehen lassen. Sie ist im Begriff, Wasser darauf zu schütten. Was sagt ihr? Rachel?' Rachel hielt kurz inne. 'Ma’am, das Wasser machts bloß schlimmer!' 'Das stimmt natürlich, aber was ist das Problem dabei?' Virgil sagte: 'Man sagt ihr, dass sie das Falsche tut.' Ich nickte. 'Was solltet ihr also stattdessen sagen?' Lizzie schaute zur Decke und sprach, während sie es zu Ende dachte. 'Möchten Sie, dass ich eine Schaufel Sand hole?' 'Richtiger Ansatz, aber du hast es nicht übersetzt.' Sie nickte. 'Herrmhimmel, Ma’am, so’ich vlleich ne Schaufel Sand ranschaffm?'"

 

Wie es sich anfühlt, als minderwertig betrachtet zu werden und dauernd auf der Hut sein zu müssen, das vermittelt der Roman präzise und beklemmend. Dass James nicht nur ein kluger, sondern ein hochgebildeter Mann ist, der in Mußestunden in der Hausbibliothek von Richter Thatcher die Philosophen der Aufklärung studiert hat und in einem Fiebertraum mit Voltaire debattiert, wirkt allerdings überzogen.

Der Flüchtige versteckt sich da schon gemeinsam mit Huck, wie bei Marc Twain, auf einer Insel im Mississippi, später begegnen sie auf ihrer Floßfahrt einem ruchlosen Gaunerpaar. Dort, wo sich "James" von Twains Klassiker entfernt, wird es interessanter. Wenn sich die Wege der beiden Freunde trennen, bleiben die Leser nun bei James. Aus einem Versteck heraus beobachtet er die Vergewaltigung eines Mädchens.

"Ich wandte nicht den Blick ab. Ich wollte den Zorn spüren. Ich freundete mich mit meinem Zorn an, lernte nicht nur, ihn zu empfinden, sondern vielleicht auch, ihn zu benutzen."

Während sich bei Marc Twain zuletzt alles in Klamauk und Wohlgefallen auflöst, wird "James" zu einem blutigen Thriller und Rachefeldzug. Percival Everett erzählt drastisch und spannend von James’ Selbstermächtigung – und bettet diese in einen dramatischen politischen Epochenumbruch ein. Dazu hat er die Handlungszeit um rund zwei Jahrzehnte auf das Jahr 1861 und den Beginn des Bürgerkriegs vorverlegt. James ist am Ende nicht mehr vom Wohlgefallen anderer abhängig. Er selbst ergreift die Initiative und kämpft darum, von einem Sklaven zu einem freien Mann zu werden.