"Notstand" von Daisy Hildyard

Stand: 05.07.2024, 07:00 Uhr

In einem nordenglischen Dorf steckt die ganze Welt: Daisy Hildyards neuer Roman erkundet ökonomische und ökologische Verflechtungen. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Daisy Hildyard: Notstand
Aus dem Englischen übersetzt von Esther Kinsky.
Suhrkamp, 2024.
237 Seiten, 25 Euro.

"Notstand" von Daisy Hildyard Lesestoff – neue Bücher 05.07.2024 05:21 Min. Verfügbar bis 05.07.2025 WDR Online Von Dirk Hohnsträter

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"Das waren die letzten Tage des häuslichen Lebens von damals, diskret und privat, ohne Öffnungen, durch die sich Freizeit und Arbeitszeit miteinander vermischen konnten. Wir wussten natürlich nicht, dass es das Ende von etwas war. Ich bin jetzt im mittleren Alter und warte immer noch darauf, dass Dinge aufhören anzufangen."

Eine Frau schaut aus dem Fenster ihrer Stadtwohnung und erinnert sich an ihre Kindheit im ländlichen Yorkshire der 1990er Jahre. So beginnt Daisy Hildyards Buch "Notstand", und erst nach 50 Seiten erfahren wir, dass es der Lockdown während der Corona-Pandemie ist, der sie dazu zwingt, zuhause zu bleiben.

Trotz des zeitgeschichtlichen Rahmens passiert in diesem Buch nichts Dramatisches, Hildyard hat einen Roman fast ohne Handlung geschrieben. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass wir es mit einem ereignislosen, weltfernen Idyll zu tun haben. Denn in dem nordenglischen Dorf, an das sich die Erzählerin erinnert, ist der Rest der Welt geradezu allgegenwärtig:

"In unserem Steinbruch wurde Kies gefördert, der in die ganze Welt verschickt wurde. Das, was für den Bau von Autobahnen in Norwegen und für neue Städte in China gebraucht wurde, bestimmte die Form des Steinbruchs und das Ausmaß des Hohlraums, der entstand, obwohl die Abhängigkeit in beide Richtungen ging, ja in alle Richtungen. Steine, einzelne Haare, Hautschuppen von den Körpern der Arbeiter und Gummiabrieb von den alten Reifen der beiden Fahrzeuge im Steinbruch reisten um den Globus. Der Ort wurde in Stücke gesprengt und in verschwindend kleinen Splittern und Partikeln über die ganze Welt verschickt."

Alles ist in diesem Buch mit anderem verbunden und vernetzt, wechselt den Ort, taucht anderswo verwandelt wieder auf. Das sich über den Globus ausbreitende Virus, Grenzen überschreitende radioaktive Strahlung, Leiharbeiter und Lieferketten, Zugvögel: Die Welt verdichtet sich in den vermeintlich belanglosen Begebenheiten eines Provinzalltags:

"Manchmal hob ich ein Stück Abfall auf, wenn mir gefiel, wie es aussah (…). Ich nahm den orangenen Laschenring der nur kurzzeitig produzierten Ausführung einer Fantadose, und später sah ich den gleichen Laschenring in einem Bild von einem toten Meeresvogel. (…) Der orangene Laschenring war neben dem elegant geschwungenen Hals des Vogels platziert. Einen solchen Ring hatte ich zwanzig Jahre vorher zum letzten Mal gesehen, als er mit anderem Abfall aufgereiht auf dem Betonboden unseres Hinterhofs lag. Er hatte Tausende Meilen zurückgelegt und war in die Gedärme dieses Vogels gelangt, der irgendwo an der Nordküste von Chile verendet war."

Hildyards Prosa vermeidet traumwandlerisch zwei nahe liegende Fallen: das Idyllische und das Plakative. Wenn sie im Wald umherstreift und von Moosen, Vögeln und Füchsen berichtet, bleiben Zerbrechlichkeit und Gefährdung des Lebendigen stets präsent.

Umgekehrt dosiert sie das Störende und Verstörende so, dass es nicht aufgesetzt daherkommt, sondern sich aus der Beschreibung des Mikrokosmos’ Yorkshire ergibt, daraus gleichsam hervorlugt. Zum Beispiel, wenn sie die Langsamkeit der Natur mit der Beschleunigung des modernen Lebens kontrastiert:

"Ich erkannte, dass die Ruhe, die der Anblick des Mooses in mir auslöste und die ich als Gefühl wahrnahm, in Wirklichkeit ein Tempo war – wir waren nicht im gleichen Takt. Ich bewegte mich durch Morgen und Wochenenden, Monate und Abendbrotzeiten, während die Moose irgendwo außerhalb meiner Zeitrechnung ihre mir fremden Phasen von Starre und Wachstum durchliefen."

Ob es die Ankunft des ersten Computers in der Dorfschule, die Waren im örtlichen Supermarkt oder verschreckte Tiere im Wald sind: unter Hildyards eigensinnigem Blick erweisen sich die Dinge als zusammenhängend. Man könnte von einer Poesie der Verflechtungen, Wechselwirkungen und Abhängigkeiten sprechen, um dieses ungewöhnliche Buch zu charakterisieren. 

Die gelernte Wissenschaftshistorikerin Hildyard beobachtet, entwirrt, verknüpft und schließt uns auf diese Weise die Welt neu auf. Esther Kinsky hat das mäandrierende, erstaunliche Buch mit sympathisierendem Eigensinn ins Deutsche übertragen. Eine Entdeckung!