Anita Brookner: Ein tugendhafter Mann
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn und mit einem Nachwort von Volker Weidermann
Eisele, 399 Seiten, 24 Euro.
Melancholie grundiert das Leben von Lewis Percy und seiner Mutter in einem Haus der bürgerlichen Vororte Londons Ende der 1950er Jahre. Frauen tragen schwingende Tellerröcke, Männer Anzüge und Schlips, Dreiteiler. Mit Höflichkeiten ummantelte Kälte prägt das Zusammenleben im erstarrten Kastensystem der britischen Teegesellschaft vor brennenden Kaminfeuern.
"Kleine Zeremonien – das Einpflanzen von Hyazinthenzwiebeln in die blauen Porzellantöpfe, das Vorziehen der Vorhänge am Abend, die Seifenstücke, die sie zwischen die frisch gewaschenen Laken im Wäscheschrank legte –, all das hatte sie glücklich gemacht, ihre Aufmerksamkeit wachgehalten, so dass sie mit Hilfe ihrer Lektüre und mit ihrem Stolz auf ihren Sohn ein friedliches Witwenleben geführt und sich eine Würde bewahrt hatte, für die er dankbar war."
Umso härter trifft Lewis der unerwartete Tod der Anfang sechzigjährigen Mutter. Zwar erbt er das Haus mit Garten und ein bescheidenes Zinsvermögen, doch was er aus seinem Leben machen soll, weiß er nicht. Er ist "Ein tugendhafter Mann" in Anitas Brookners gleichnamigem Roman, ein Antiheld, der sich in der fiktiven Welt der Literatur und der "Archetypen der Helden in den Romanen des 19. Jahrhunderts" auskennt, aber wenig in der Realität der Gegenwart. Onkel Andrew rät zu einer Beamtenlaufbahn, Professor Armitage zu einem Job in der Universitätsbibliothek.
"Er würde seine Arbeit zu Ende schreiben – das verstand sich von selbst –, aber das war nicht sein Hauptinteresse. Wonach er sich sehnte, war die Rückkehr zu seinem alten Selbst, bevor die Traurigkeit in sein Leben trat. (...) Er wusste, dass er dazu bestimmt war, seine Heimat in der Sprache zu finden. Aber er wusste auch tief in seinem Herzen, dass er nicht für immer ohne eine Gefährtin leben konnte."
In der Stadtbibliothek lernt Lewis die unscheinbare Tissy kennen. Ihre Schüchternheit und Zerbrechlichkeit wirken anziehend auf ihn. Und er fasst einen Entschluss: Heldenhaft, wie in den Romanen, über die er promoviert, will er sie aus ihrem Dornröschenschlaf wecken.
"Er mochte ihre Stille, ihre Zartheit. Sie war noch unentdeckt, das gefiel ihm auch. Bei ihr musste er keine Angst haben. (...) Es war Mrs Harper, die das Weitere in die Hand nahm."
Die einschüchternde Mutter, eine im Gegensatz zu Tissy schöne, üppig zurechtgemachte Matrone, die mit einem verlotterten alten Arzt befreundet ist, lenkt die Geschicke der an Platzangst leidenden Tochter. Lewis Ehe mit Tissy steht jedoch von Anfang an unter keinem guten Stern. Er staunt, wie sie ihre Erfüllung in häuslichen Pflichten findet, aber er vermisst Leidenschaftlichkeit und Nähe.
"Manchmal kam es Lewis so vor, als wäre ihr Nutzen füreinander nur die Maskierung dessen, dass sie sich im Grunde beide einsam fühlten – und es war eine Einsamkeit, die jeden von ihnen mit unerträglicher Härte niedergeschlagen hätte, wenn er sie alleine hätte tragen müssen. Doch solange der Partner da war, konnten sich beide nicht völlig verlassen fühlen."
In endlosen inneren Monologen reflektiert er über Tissy, aber sie bleibt verschlossen. So distanziert wie Anita Brookners feinziselierte Sprache aus der personalen Erzählperspektive der dritten Person. Die Lesenden erfahren alles über Lewis Percys Gefühle und Gedanken, sein Leben und seinen Blick auf die Welt, aber nichts aus dem Innenleben der ihn umgebenden Frauen.
"Dabei war er beileibe nicht unglücklich. (...) Selbstverständlich hatte er das Angebot von Professor Armitage angenommen (...). Man räumte ihm einen freien Nachmittag pro Woche für seine Recherchen ein, und diese Zeit widmete er der Arbeit, ein Buch aus seiner Doktorarbeit zu machen."
Am Ende wird dieses Buch zum Sprungbrett aus Lewis kleinmütigen Leben. Doch bis dahin liegt ein weiter Weg vor ihm. Die Handlung nimmt rasant Fahrt auf, als er sich in die impulsive Schwester seines Freunds Pen, die Schauspielerin Emmy verliebt und Tissy zu ihrer Mutter flüchtet.
"Er liebte sie, auf eine verletzte, kaputte Weise. Er liebte sie, wie ein Kind seine kaputte Puppe lieben mag, wenn es halb Angst hat, selbst schuld daran zu sein, dass sie kaputt ist."
Bemerkenswert treffende Formulierungen, feinstgeschliffene Beschreibungen von Gefühlen und Gedanken sind Anita Brookners große Stärke in dieser anrührenden Geschichte einer Befreiung aus den Zwängen von Gewohnheiten und Konventionen. Lewis‘ Glück mit der warmherzigen Emmy steht nichts mehr im Wege, außer er selbst, wie er nur allzu gut weiß, doch er ist lernfähig.