Südindien, Totes Gebirge in Österreich, Sonnenpyramiden in Mexiko, Eisbären am Polarkreis, Edelweiß in den Wiener Bergen, Schwarzbüffel im Grenzgebiet zwischen Uganda und Kongo. Christoph Ransmayrs Reisen gehen weiter. Nach 13 Miniaturgeschichten aus aller Welt, "Als ich noch unsterblich war", nun 70 Erzählungen en Miniature. "Mikroromane" nennt Ransmayr diese Geschichten. Noch vor knapp zehn Jahren veröffentlichte Ransmayr "Atlas eines ängstlichen Mannes". Auch in diesem Buch versammelte er 70 Geschichten, die er Episoden nannte. Das Verbindende im Buch damals mit dem Buch heute ist: sie sind aus dem Reisen, dem Unterwegssein entstanden. Augenblicksmomente, festgehalten in Text und Bild, denn "Egal wohin, Baby" enthält auch 70 Fotografien, meist Schnappschüsse, die Ransmayr jeder Geschichte hinzu gefügt hat. Im Gegensatz zu seinen vorhergehenden Büchern, die aus der Perspektive der ersten Person geschrieben sind, richtet Ransmayr diesmal eine Erzählerinstanz mit Namen Lorcan ein. Zur Abschaffung des Ich-Erzählers schreibt Ransmayr im Vorwort:
"Diesen verliehenen Namen abzustreifen, sich selbst noch einmal neu zu taufen! und sich so in eine Gestalt des eigenen Willens zu verwandeln: Ich nicht als ich."
Ganz offensichtlich hat sich Ransmayr durch diesen Perspektivwechsel einen Freiraum als Erzähler geschaffen, der das Autor-Ich mehr auf Distanz hält.
"Indem hier einer sein Leben als Lorcan zur Sprache bringt und Szenen und Augenblicke daraus mit Schnappschüssen sichtbar macht, befreit er sich vom Gewicht seiner Erinnerungen und verwandelt einen erschöpften Touristen oder einen von Neugier und Fernweh erfüllten Reisenden in einen gelassenen Erzähler."
Und so besteigt er die Sonnenpyramiden in Mexiko, genauso wie er in seine Kindheitsgeschichte in Oberösterreich zurücksteigt, wo der Traunfall ein Heimatort ist, den er an allen Orten der Erde, wo Wasserfälle sich befinden, wiederfindet.
"Lorcan sollte nach dem Traunfall seiner Kindheit noch staunend vor weitaus größeren Wasserfällen stehen – den Victoriafällen, den Niagarafällen, den Iguazúfällen, (...) vor dem japanischen Shomyo-Fall oder dem höchsten von allen, dem Salto Ágel in Venezuela, dessen himmelhoher Wassermantel beinahe tausend Meter in eine dunkle Tiefe fiel – aber durch jedes dieser Wasserwunder hatte er den Traunfall wie ein Wasserzeichen schimmern sehen."
Immer wieder entdeckt Lorcan auf seinen Reisen auch unaufgearbeitete Spuren von Menschheitsverbrechen. Insbesondere in Europa, wo die Verbrechen der Nationalsozialisten noch nachwirken. In der Festung Gaeta, in der Nähe Neapels spürt er der Geschichte eines deutschen und eines deutsch-österreichischen SS-Schergen nach, die hier Massaker an der Zivilbevölkerung vornahmen. Beide wurden erst zu lebenslanger Haft in einer Luxuswohnung untergebracht, später dann sogar frei gesprochen.
In Geschichten wie diesen zeigt sich das journalistische Gespür, das Ransmayrs Schreiben von jeher auszeichnet. Die Titelgeschichte "Egal wohin, Baby" handelt von einem Spruch, den Lorcan an einem Gebäude des Ingolstädter Güterbahnhofs entdeckt.
"Das musste, das konnte nur eine Liebeserklärung sein. Einen Mensch, egal wohin begleiten zu wollen, an einen tropischen Küstenstrich ebenso wie in den Staub industrieller Kohlehalden, in die Eisregion oder auf ein Schlachtfeld bis in den Tod, war mehr als jeder andere Schwur versprechen konnte. Und ein Dichter, wer imstande war, seine Leidenschaft mit diesen drei Worten zur Sprache zu bringen."
Ransmayr, alias Lorcan, glaubt an die Kraft der Dichtung. Kaum ein deutschsprachiger Autor schafft so erzählerisch leicht und poetisch Bilder des Schreckens wie der Schönheit zu erzeugen. Immer wieder reist Lorcan in diesem Buch nach Griechenland, der Wiege der Legenden, Sagen und Dichtung in Europa. Legenden und Sagen lässt auch Christoph Ransmayr in seine Geschichten miteinfließen. Auch in die, in der er an den Urvater der erzählenden Dichtung Homer erinnert.
"Kein Mensch, kein einzelner Dichter oder Erzähler könne die Kraft besessen haben, solche Heerscharen von Helden, Göttern, Kriegern, liebenden, kämpfenden und trauernden Gestalten erstehen zu lassen. (...) Das müßte das Werk einer ganzen Reihe von namenlosen Dichtern gewesen sein (...)."
In diesem Sinne ist Christoph Ransmayr ein Homer unserer Zeit, der das oftmals namenslos Überlieferte und bis dato Unbekannte sammelt und zwischen zwei Buchdeckel steckt, um es uns Lesern zu erzählen.