"Vierzehn Tage" von Margaret Atwood und Douglas Preston

Stand: 29.02.2024, 12:00 Uhr

Ein ungewöhnliches Gemeinschaftsprojekt bringt neben Margaret Atwood und Douglas Preston weitere Autorinnen und Autoren zusammen. Unter dem Titel "Vierzehn Tage" entsteht weit mehr als eine Anthologie. Das Hörbuch liest Simone Kabst. Eine Rezension von Christoph Vratz.

Margaret Atwood & Douglas Preston (Hg.): Vierzehn Tage
Gelesen von Simone Kabst.
Osterwold Audio, 2024.
2 CDs (Laufzeit: 15 Stunden und 29 Minuten), ca. 25 Euro.

"Vierzehn Tage" von Margaret Atwood und Douglas Preston (Hg.) Lesestoff – neue Bücher 29.02.2024 05:25 Min. Verfügbar bis 28.02.2025 WDR Online Von Christoph Vratz

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Schon der Untertitel lässt stutzen: Ein "Gemeinschaftsroman"? Was soll das sein? Das Werk einer WG? Oder ein Projekt von Studierenden?

"Ein Roman, der ganz der ursprünglichen Bedeutung der englischen Bezeichnung 'novel' entspricht – dieses Wort leitet sich über italienisch 'novella' vom lateinischen 'novellus' ab und stand von alters her für eine Geschichte, die nicht eine vertraute Erzählung, einen Mythos oder eine biblische Parabel verarbeitete, sondern etwas ganz Neues, Frisches, Erstaunliches, Unterhaltsames und Überraschendes bot."

Konkret bedeutet das: "Vierzehn Tage" – so der eigentliche Titel – wurde verfasst von 36 amerikanischen und kanadischen Autorinnen und Autoren – alle mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und Vertreter aller literarischen Gattungen und Genres. Herausgeber und zugleich mit-schreibend sind die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood und der New Yorker Douglas Preston. Kann eine solche Vielstimmigkeit gelingen?

"Sie können mich einfach 1A nennen. Ich bin Hausmeisterin eines Mietshauses an der Rivington Street in der Lower East Side von New York City. Fünfstöckig, ohne Aufzug, hört auf den absurden Namen The Fernsby Arms. Eine baufällige Bruchbude, die schon längst abgerissen gehört hätte."

 

Anfangs drängt sich die Frage auf: Soll hier eine Geschichte nach dem Muster "Vom Tellerwäscher zum Millionär" erzählt werden?

"Für mich wünschte sich mein Dad ein ganz anderes Leben, fern von den Klos und Kakerlaken anderer Leute. Er legte jeden Cent beiseite, damit ich aufs College gehen konnte; ich bekam ein Basketballstipendium für die State University of New York und wollte Sportreporterin werden."

"Tag eins" dieser "Vierzehn Tage" ist datiert auf den 31. März 2020. Wir sind also mitten in der ersten Hoch-Phase der Corona-Pandemie.

"Natürlich waren alle, denen es möglich war, längst aus New York geflohen. Wie Ratten von einem sinkenden Schiff waren die Reichen und Besserverdiener quiekend in die Hamptons, nach Connecticut, in die Berkshires, nach Cape Cod und Maine ausgeschwärmt – egal wohin, Hauptsache raus aus New Covid City."

Die Hausmeisterin 1A hat das erste Wort in diesem Roman. Sie ist die erste Stimme, zu der sich sehr bald mehrere weitere hinzugesellen – es sind Nachbarn, die sich auf einem Hausdach begegnen, mit dem üblichen Covid-Abstand. Jede und jeder hat eine eigene Geschichte. Und so entwickelt dieses literarische Experiment zunehmend seine eigene Dynamik. 

"An diesem Abend auf dem Dach hatte ich den Eindruck, dass sich unser Brauch herumgesprochen hatte; es waren deutlich mehr Bewohner gekommen, um Beifall zu klatschen, auf Töpfe zu trommeln oder den Sonnenuntergang zu genießen. […] Ich war noch immer dabei, mir die Namen, Wohnungsnummern und Besonderheiten der Leute zu merken."

           

Die Menschen beginnen, einander ihre Geschichten zu erzählen. Daraus entsteht ein modernes "Decamerone" nach Boccaccios Vorbild, subtil ins Jetzt übertragen.

"Doch ich konnte nicht leugnen, dass ich froh um die Geschichten war. Es war gut, mal eine Pause vom Sorgenmachen zu haben. […] Zurück in meiner Besenkammer begann ich sofort, die Geschichten des Abends und meine eigenen Gedanken dazu niederzuschreiben. Es dauerte die halbe Nacht, doch ich war immer noch hellwach."

Das Spektrum dieser (vermutlich fiktiven) Geschichten ist so breit wie die Biographien ihrer Verfasser. Wer nun welche Episode zu diesem Gemeinschaftsroman beigetragen hat, erfährt man erst ganz am Ende, in einem separaten Anhang, wo die Autorinnen und Autoren auch kurz vorgestellt werden.

Schauspielerin Simone Kabst hat das neue Werk ungekürzt als Hörbuch aufgenommen. Sie fängt die Vielzahl an Stimmen geschickt ein, denn sie verleiht nicht krampfhaft jeder Figur ein eigenes Profil.

Vielmehr fungiert sie in ihrer Sprecherinnenrolle als Bindeglied. Die verschiedenen Atmosphären – das Warten, Hoffen, Bangen, Leiden – finden auf selbstverständliche Weise zusammen. Kabst wählt ihre Tempi souverän, sie liest nie hektisch, eher ruhig. "Vierzehn Tage" – das literarische Experiment hat hier eine unaufdringliche, kluge Stimme gefunden.