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"Man muss der katarischen Regierung Skrupellosigkeit attestieren"

Stand: 06.04.2020, 16:02 Uhr

Der Psychologe und Neurowissenschaftler Dr. Andreas Kappes (City, University of London) hat zu Pandemien geforscht und wie diese das Verhalten von Menschen beeinflussen. Im Interview mit sportschau.de bewertet er die Maßnahmen der katarischen Regierung und welche Auswirkung diese auf die dortigen Gastarbeiter haben.

Wie bewerten Sie aus psychologischer Sicht die Situation in Katar?

Dr. Andreas Kappes: Man muss der katarischen Regierung Skrupellosigkeit attestieren, weil sie in Kauf nehmen, dass die Gastarbeiter unter einem massiven Druck stehen. Dass sie mental leiden. Sie nehmen in Kauf, dass tausende Gastarbeiter einer Verzweiflung ausgesetzt sind. Diese Isolierung verdeutlicht allen Gastarbeitern, dass sie keine Kontrolle über die eigene Situation haben. Es ist eine extrem schwierige Situation.

Was kann dieser Kontrollverlust für die eingeschlossenen Gastarbeiter bedeuten?

Kappes: Natürlich ist das extrem angsteinflößend, wenn meine Grundbedürfnisse, Nahrung zum Beispiel, bedroht sind. Weil ich nicht weiß, ob ich morgen oder übermorgen oder in einer Woche noch genug zu Essen habe. Wenn ich weiß, dass alle anderen um mich herum das gleiche Bedürfnis haben: Sie brauchen es und ich brauche es und es ist zu wenig da. Und wenn man das Gefühl bekommt, dass man über dieses Grundbedürfnis überhaupt keine Kontrolle hat, dann ist das massiv angsteinflößend. Hier sind alle diese Ängste nicht illusorisch, sondern sie sind real.

Wie gehen Menschen normalerweise mit Ängsten um?

Kappes: Menschen versuchen oftmals, sich schwierigen Situationen oder unangenehmen Situationen - ob real oder nicht real - zu entziehen. Jetzt bin ich in einer Situation, wo ich das nicht kann. Weder psychisch noch physisch. Ich kann mich dieser Situation nicht entziehen. Ich bin meinen Ängsten ausgeliefert. Ich bin praktisch damit konfrontiert, dass ich nichts tun kann, dass ich nicht raus kann und dass da jemand ist, der Macht über mich hat. Das ist extrem schlecht für das mentale Wohlbefinden dieser Gastarbeiter.

Wie erklären Sie sich das Vorgehen der katarischen Regierung?

Kappes: In kritischen Situationen neigen Menschen dazu, eher in der eigenen Gruppe zusammenzuhalten und den Spalt zu anderen Gruppen zu verbreitern. Man kann der Regierung vorwerfen, dass sie diese Situation anscheinend ausnutzt, um zu verdeutlichen: Das sind die Gastarbeiter und die haben das Problem. Wir schließen sie hier ein und damit vermittelt die Regierung der eigenen Bevölkerung: Wir haben alles unter Kontrolle. Das Problem sind die Gastarbeiter und nicht wir. Ich glaube, dass das ganz geschickt ist. Es gibt der eigenen Bevölkerung ein Gefühl von illusionärer Sicherheit. Man schiebt das Problem auf eine andere Gruppe. Das baut auf dem natürlichen Instinkt von Menschen in kritischen Situationen auf, stärkere Grenzen, zwischen uns und denen, gemeint sind die Gastarbeiter, zu ziehen.

Das Gespräch führte Benjamin Best