Bädersterben und Vereinssterben

Bädersterben in Deutschland: Schwimmverband und DLRG schlagen Alarm

Stand: 27.08.2020, 10:00 Uhr

Jeden vierten Tag schließt ein Schwimmbad in Deutschland, 60 Prozent der 10-jährigen Kinder können nicht sicher schwimmen, und es gibt einen enormen Mitgliederschwund bei den Schwimmvereinen - Deutschland entwickelt sich mehr und mehr zum Nichtschwimmerland. Die Corona-Pandemie hat die kritische Lage in den vergangenen Monaten verschärft.

Von Matthias Wolf

Der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) und die Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) schlagen Alarm: Die Folgen der Covid-19-Pandemie hätten bereits jetzt massive Auswirkungen auf die ohnehin schon schlechte Schwimmfähigkeit der Bevölkerung, die deutsche Bäderlandschaft - und das Vereinsleben. Gegenüber dem WDR-Hintergrundmagazin Sport inside sagte DSV-Vizepräsident Wolfgang Hein, sein Verband befürchte "sicherlich zum Winter hin, spätestens aber zum Frühjahr nach einem Bädersterben auch ein Vereinssterben".

Corona: 40 Prozent der Bäder geschlossen

Die Pandemie wirke "nochmal wie ein Brennglas auf diese Probleme", die bereits seit Jahren existierten und von der Politik "seit Jahrzehnten nachlässig behandelt" worden seien, so Hein: "Derzeit ist es so, dass 40 Prozent der Bäder geschlossen haben und nicht von den Vereinen genutzt werden können." Und es sei mehr als unsicher, wie viele von diesen Bädern überhaupt jemals wieder öffnen würden.

Vielerorts ist jetzt noch ungeklärt, ob und in welchem Umfang überhaupt den Vereinen ab Ende September Schwimmhallen zur Verfügung gestellt werden. Der DSV befürchtet hier das Schlimmste. Eine Umfrage des Schwimm-Verbandes unter seinen Mitgliedern habe ergeben, dass bereits aktuell nur knapp die Hälfte Zugang zu ihren gewohnten Schwimmstätten hätte. Der Rest sitzt auf dem Trockenen.

Bad häuft Defizit von 120.000 Euro an

Sport inside traf Wolfgang Hein im Sonnenbrinkbad in Obernkirchen, Niedersachen. Dort trainiert normalerweise sein Heimatverein, die Schwimm- und Sportfreunde Obernkirchen. Doch das von einem Förderverein mit enormem ehrenamtlichen Engagement betriebene Freibad hat in diesem Jahr gar nicht erst eröffnet. Jahr für Jahr kommt die Stadt für ein Defizit von 120.000 Euro auf – die in Coronazeiten nötigen Hygieneauflagen mit Besucherbeschränkungen hätten ein weiteres Finanzloch von 100.000 Euro gerissen, das laut Stadtkämmerer Helmut Züchner aus der Stadtkasse nicht zu schließen war.

Laut Förderverein wäre sogar bei Öffnung generell der Fortbestand des Sonnenbrinkbades gefährdet gewesen. Die Schwimm- und Sportfreunde haben über die Sommermonate nur wenige Wasser-Trainingsstunden in einem Nachbar-Freibad ergattern können, halten ihre Mitglieder ansonsten mit Trockentraining halbwegs bei Laune. Diese Situation, so Hein, sei sinnbildlich für viele Schwimmvereine in Deutschland. Vielen würden die Mitglieder derzeit scharenweise davonlaufen – mangels Wasserzeiten. Man bekomme "sehr viele Hilferufe von Vereinen", so Hein.

DSV hat 80.000 Mitglieder verloren

Die Folgen der Pandemie sind ein weiterer Nackenschlag für den deutschen Schwimmsport. Der DSV hat bereits in den vergangenen 18 Jahren rund 80.000 Mitglieder und 220 Vereine verloren – weil es immer weniger Wasserflächen in Deutschland gibt. Nach DLRG-Angaben haben seit dem Jahr 2002 rund 1.400 von 7.700 Bädern deutschlandweit geschlossen. Hunderte seien aktuell in ihrem Bestand bedroht, weil sie marode sind. Der Sanierungsstau im Bereich der Bäder liege bei 4,5 Milliarden Euro – und viele Kommunen sparen in ihrer Finanznot zuerst bei sogenannten freiwilligen Leistungen wie Schwimmbädern.

Nun droht vielen Schwimmvereinen eine existenzielle Krise. Ganz abgesehen davon, dass sie einem weiteren wichtigen gesellschaftlichen Auftrag nicht mehr nachkommen können: Kindern das Schwimmen beizubringen. Diese Aufgabe teilen sich die Vereine mit den Schulen und der DLRG. Und auch hier gäbe es eine kritische Situation, sagt DLRG-Sprecher Wiese: "Durch Corona hat allein die DLRG mindestens 20.000 Kindern das Schwimmem nicht beibringen können, bis jetzt. Das ist aber sehr vorsichtig geschätzt, also eher die Tendenz Richtung 30.000." Da es bereits jetzt bei vielen DLRG-Ortsvereinen lange Wartelisten (oft bis zu zwei Jahre) für Schwimmanfänger gäbe, sei der Rückstand kaum mehr aufzuholen.

192 Badetote in diesem Jahr

Die Auswirkungen seien dramatisch. Schon jetzt könnten laut DLRG 59 Prozent aller Kinder, die mit zehn Jahren die Grundschule verlassen, nicht sicher schwimmen. Corona mache nun alles noch schlimmer, denn es fehlt nicht nur an Schwimmkursen bei Vereinen, sondern auch in den Schulen findet seit März kein Schwimmunterricht mehr statt: "Die Schwimmfähigkeit in Deutschland lässt weiter nach. Deutschland entwickelt sich zunehmend zum Land der Nichtschwimmer", sagt Wiese. Und DSV-Vize Hein betont: "Alleine in diesem Jahr fehlt ja bereits eine komplette Generation der Schwimmer. Und wenn man sich so vorstellt, ein Jahrgang fällt komplett weg – das müsste eigentlich im nächsten Jahr nachgeholt werden. Doch die Kapazitäten sind in den Bädern gar nicht da, selbst wenn wir sie wieder vollständig öffnen können." Was das wiederum bedeutet, bekomme die DLRG auch in diesem Jahr wieder zu spüren, vor allen an offenen Gewässern: Trotz eher regnerischem Sommer sind es bereits wieder 192 Badetote in diesem Jahr.

Dieses Element beinhaltet Daten von Instagram. Sie können die Einbettung auf unserer Datenschutzseite deaktivieren.

Die DLRG habe auch "aufgrund des kausalen Zusammenhangs zwischen Schwimmfähigkeit und Ertrinkungszahlen" (Wiese) jahrelang Druck auf die Politik ausgeübt – und feierte vor einem Jahr einen vermeintlichen Teilerfolg. Die Petition "Rettet die Bäder", mit letztlich über 120.000 Unterschriften, konnte in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion an den Sportausschuss des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung übergeben werden.

Nichts Konkretes beim Goldenen Plan Sportstätten

Laut DSV und DLRG gab es im Spätsommer 2019 auch Zusagen des Innenministeriums für einen neuen milliardenschweren Goldenen Plan Sportstätten. Schwimmverband und Lebensretter gingen damals von einer Milliarde Euro allein für Bädersanierungen aus. "Das sei ein Anfang, schafft Bewusstsein", freute sich Hein, der damals im Sportausschuss vorsprechen durfte. Doch das alles war vor Corona, betont nun André Hahn, Obmann im Sportausschuss und mit seiner Fraktion der Linken ein großer Befürworter für eine bundesweite Bäder-Sanierungsinitiative.

Jetzt könnte auch hier Covid-19 alle Planungen umwerfen, die obendrein noch lange nicht offiziell seien: "Was jetzt in der Diskussion steht für die Schwimmbäder, dieser Goldene Plan Sportstätten – das ist bis jetzt nur eine verbale Zusage des Bundesinnenministers, ohne konkrete Untersetzung." Hahn weiter: "Keiner kennt die Summe, keiner kennt die Rahmenbedingungen und deshalb nutzt dieses Programm im Moment noch niemanden." Er gehe sogar davon aus, dass alsbald aus Regierungskreisen das Argument kommen werde, durch Corona seien "keine weiteren größeren Summen da, um dem Sport jetzt noch weiter zu helfen". Dagegen müsse man sich dann laut Hahn zwar auch politisch wehren - doch es bleibt dabei: Es sind düstere Aussichten für alle Schwimmer und die deutsche Bäderstruktur.