Deutschland im Herbst 1988: Das Land ist noch geteilt, als Richard Rogler im Alten Wartesaal unter dem Kölner Hauptbahnhof zur Premiere der „Mitternachtsspitzen“ begrüßt. Alle paar Wochen will er fortan das aktuelle Geschehen kabarettistisch-satirisch kommentieren, gemeinsam mit prominenten wie weniger prominenten Gästen aus der so genannten Kleinkunst. Was Richard Rogler da noch nicht wissen kann: dass im Jahr darauf die Mauer fällt während er auf der Bühne im Wartesaal steht, dass er Ende 1991 die Gastgeberrolle nicht ganz freiwillig aufgeben wird und dass im Frühjahr 1992 seine befreundeten Kollegen Jürgen Becker und Wilfried Schmickler die „Mitternachtsspitzen“ weiter führen werden – bis weit ins 21. Jahrhundert hinein.
Jürgen Becker und Wilfried Schmickler im Jahr 2012 – nach zwanzig Jahren gemeinsamen Einsatzes bei den „Mitternachtsspitzen“
„Herr Rundfunkrat, Sie haben Herrn Rogler auf dem Gewissen …“, mit diesem Satz gibt das Gründungsmitglied der Kölner Stunksitzung Jürgen Becker als Nachfolger von Richard Rogler die Richtung vor: Die „Mitternachtsspitzen“ kehren auch vor der eigenen Tür, sehen den Balken im eigenen Auge, kommentieren das Tun und vor allem das Lassen auch der Leute im Heimatsender – und nicht nur der Politiker, der so genannten Publikumslieblinge oder der Würdenträger des im Rheinland angeblich „normalen Glaubens“. „Kritik und Spott sind umgekehrte Zuwendung“, heißt das bei Jürgen Becker.
Gastgeber Jürgen Becker im Jahr 2017
Mit dem gebürtigen Duisburger Uwe Lyko alias Herbert Knebel erhalten die „Mitternachtsspitzen“ 1996 ein neues Highlight: Als unkaputtbarer Rentner aus dem Ruhrgebiet versteckt Uwe Lyko fortan kontinuierlich das Tiefe an der Oberfläche, hinter alltäglichen Begebenheiten und Erfahrungen. Mit Uwe Lyko als „Smoky“ und Wilfried Schmickler als „Loki“ setzen die „Mitternachtsspitzen“ nicht nur dem Ehepaar Helmut und Hannelore Schmidt ein Denkmal, sondern auch sich selbst: Die Rubrik „Loki und Smoky“ auf der Basis von Texten des Autors Dietmar Jacobs wird Kult. Vollkommen klar, dass diese Rubrik nach dem Tode des Hamburger Raucher-Ehepaares durch einen neuen Kult abgelöst werden muss: „Überschätzte Paare der Weltgeschichte“.
Durch die Kölnerin Susanne Pätzold gehört erstmals 2014 auch eine starke Frau zum Team der „Mitternachtsspitzen“. Als ausgebildete Schauspielerin brilliert sie bis zu ihrem Ausscheiden knapp acht Jahre später regelmäßig mit Parodien und Persiflagen in Vollendung.
Das Team der Mitternachtsspitzen Anfang 2023
„Aufhören! Aufhören!“ Weg mit dem alten Schlamassel! Umdenken! Womit der gebürtige Leverkusener Wilfried Schmickler seit 1992 jede Sendung beschließt, das eckt an, das regt auf, das löst Proteste aus. Oder es stößt auf Begeisterung und Zustimmung. Auf alle Fälle macht es Wilfried Schmickler zu einem der wortgewaltigsten Kabarettisten deutscher Zunge.
Becker, Lyko und Schmickler – ein Triumvirat, das in etwas mehr als einem Vierteljahrhundert zwar das Unwahre, Schlechte und Unschöne der Republik nicht besiegt hat, aber zum Jahreswechsel 2020/2021 die „Mitternachtsspitzen“ trotz Corona-Pandemie quicklebendig an Christoph Sieber und seine kabarettistischen Mitstreiter Philip Simon und Michael Hatzius übergeben kann.
Und so schwimmen die „Mitternachtsspitzen“ mal ohne Saalpublikum und mal mit handverlesenen Zuschauerinnen und Zuschauern wie eine Arche durch die Virus-Mutanten-Flut, musikalisch begleitet von der Bord-Kapelle Tobi Hebbelmann, in der Hoffnung auf … eine bessere Welt.