Was die Gaffer antreibt
Stand: 16.04.2016, 17:00 Uhr
Gaffer behindern Rettungskräfte, gefährden damit Menschenleben. Was treibt uns dazu, hinzusehen, wie jüngst am Hagener Bahnhof? Warum behindern manche sogar die Retter? Wir erklären, was hinter der Schaulust steckt und welche Strafen drohen.
Von Matthias Goergens
Woher kommt die Lust an der Schaulust?
Schaulust sei zunächst einmal etwas Natürliches, sagt Notfallpsychologe Gerd Reimann: "Man möchte Schlüsse ziehen, wie man sich selbst vor derartigen Unfällen schützen kann." Gaffer könnten am Leid anderer Menschen sogar eine gewisse Lust empfinden. "Da fehlt tatsächlich ein Stück Empathie", sagt Reimann. Auch die Änderung der Medienlandschaft trage dazu bei. Weil die Grenzen zwischen dem, was wir in den Medien sehen, und der Wirklichkeit verschwimmen würden, entstünden diese Verhaltensweisen. "Wo man früher vielleicht geholfen hätte, ist man heute geneigt, zuzuschauen – wie in einem Film."
Was macht das mit den Rettern?
Nach den Vorfällen am Mittwoch (13.04.2016) in Hagen, als Schaulustige bei der Versorgung eines schwer verletzten kleinen Mädchens die Rettungsarbeiten behinderten, meldeten sich auch viele Rettungskräfte zu Wort. "Gaffen wird zum Massensport", schrieb Sanitäterin Steffie Wagner im Netzwerk Facebook. Notfallsanitäter Philip Hergt hat etwas Ähnliches erlebt wie die Hagener Kollegen: "Ein Bürger, der mit seinem Sohn (ca. 6 Jahre) über eine Absperrung klettert, um die Abdeckung von einem verunglückten Motorradfahrer zu nehmen. Um sich die Leiche anzusehen."
Sanitäter-Ausbilder Markus Quasdorf bestätigt, dass es immer häufiger vorkommt: "Die Menschen sind mittlerweile skrupelloser." Anstatt zu helfen, eine Unfallstelle abzusperren oder etwas Sinnvolles zu leisten, werde gefilmt. "Sobald etwas Spektakuläres passiert, ziehen die Menschen ihr Smartphone aus der Tasche, halten drauf und denken nicht drüber nach, wie es dem Menschen geht. Oder auch uns, die wir vielleicht nicht im Rampenlicht stehen wollen."
Wie sollte man selbst Gaffern gegenüber begegnen?
Sanitäter Markus Quasdorf und seine Kollegen haben festgestellt, dass die meisten Schaulustigen einsichtig sind: "Wenn man sie anspricht, fällt ihnen schon ihr falsches Verhalten auf." Der Kölner Verkehrspsychologe René Nejad rät ebenfalls zum Ansprechen der Gaffer: "Viel mehr als Worte bleiben nicht. Man sollte mit Fragen und Hinweisen in Ruhe einwirken. Fragen, ob derjenige das in Ordnung findet, was er macht. Hinweisen, dass einem wehrlosen Unfallopfer das sicher nicht recht sei. Und bitten, das Aufzeichnen sein zu lassen." Ohne dabei aber einen Befehl auszusprechen oder dem Gegenüber das Smartphone aus der Hand zu nehmen.
Mit welchen Strafen müssen Gaffer rechnen?
Fotografieren und Filmen von Unfällen und Verletzten ist eine Straftat, denn generell gilt das Recht am eigenen Bild. Bereits Anfang 2015 wurde der entsprechende Paragraf im Strafgesetzbuch neu gefasst (§ 201a StGB). Wer mit Fotos und Videos beispielsweise "die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt", dem drohen zwei Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe. Das Strafmaß gilt auch für alle, die diese Bilder verbreiten oder weitergeben. Vorher war dafür ein Jahr vorgesehen. Neu in dem Paragrafen ist auch die Regelung, dass "Bildträger sowie Bildaufnahmegeräte oder andere technische Mittel, die der Täter oder Teilnehmer verwendet hat", eingezogen werden können.
Auch wenn keine Fotos gemacht werden, kann Gaffen durch die Polizei als Ordnungswidrigkeit mit bis zu 1.000 Euro Bußgeld geahndet werden. Punkte oder ein Fahrverbot gibt es jedoch nicht. Wer die Rettungsmaßnahmen tatsächlich behindert, muss mit Strafen bis zu 5.000 Euro rechnen. Wer einen Unfall beobachtet und lieber erst fotografiert statt zu helfen, könnte auch wegen unterlassener Hilfeleistung dran sein. Was ein Jahr Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe bedeuten könnte.
Was wird außerdem getan gegen Schaulustige?
Seit dem vergangenen Jahr gibt es in Nordrhein-Westfalen mobile Sichtschutzwände. Diese Sichtbarrieren sollen Unfallopfer und Rettungskräfte davor schützen, von Vorbeifahrenden mit Handys fotografiert oder gefilmt zu werden. "Wenn Appelle einige wenige Menschen ohne Anstand einfach nicht erreichen, dann sind eben unkonventionelle Lösungen nötig", sagte NRW-Verkehrsminister Michael Groschek damals.
Beim Deutschen Verkehrsgerichtstag im Januar in Goslar forderte die niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne) eine weitere Gesetzesverschärfung: "Die derzeitige Rechtslage zeigt Lücken auf, die zum Schutz der Opfer und Rettungskräfte geschlossen werden müssen." Bisher erfasst der erst im vergangenen Jahr neu gefasste Paragraf im Strafgesetzbuch nicht Aufnahmen von Toten, so dass Fotografieren oder Filmen Verstorbener am Unfallort nicht unterbunden werden kann. Außerdem wird die Behinderung von Rettungsarbeiten ohne Anwendung von Gewalt und ohne tätlichen Angriff derzeit nicht bestraft. Diese Lücken gelte es zu schließen.