"Wenn jetzt das Bild auftaucht, fällt uns Syrien wieder ein"

Stand: 18.08.2016, 17:38 Uhr

  • Ein Foto aus dem Syrien-Krieg eines kleinen syrischen Jungen geht am Donnerstag (18.08.16) um die Welt
  • Filmemacher Hubertus Koch hat in Syrien die Dokumentation "Süchtig nach Jihad" und "Syrien - ein schwarzes Loch" gedreht
  • In einem exklusiven Gastbeitrag für die Aktuelle Stunde schreibt er über die Einsicht, dass das Bild nichts ändern wird

Von Hubertus Koch (Gastbeitrag)

Hubertus Koch, Journalist und Filmemacher aus Köln, hat im Dezember 2014 seine mit dem deutschen Fernsehpreis ausgezeichnete Dokumentation "Süchtig nach Jihad" veröffentlicht. Dafür ist er nach Syrien gereist und war dort vor allem geschockt davon, wie stark das Kriegsgeschehen Einfluss auf die Kinder hat.

Was nützt ein Foto, wenn nichts passiert?

Es macht nichts mit mir. Gar nichts. Ich habe das Foto und die Videoaufnahmen des kleinen Jungen gesehen, während ich bei der Arbeit flüchtig durch Facebook scrollte. Es berührte mich nicht im Geringsten. "So ist es halt. Im Nahen Osten nichts Neues", dachte ich und arbeitete weiter. Mehr nicht.

Ich bin viel zu beschäftigt und habe genug mit mir und meinem Kram zu tun. Reizüberflutet, soziale Medien, ein ständig klingelndes Handy, ein Treffen hier, ein Film da – zwischendurch mal wieder die Familie treffen und wenn's ganz gut läuft abends mal ganz in Ruhe eine Komödie ansehen.

Syrien ist ein schwarzes Loch. Syrien ist verloren. So war es damals. So ist es heute. Daran kann ich nichts ändern. Ich habe aufgegeben.

Das war damals anders. Aber so ist es heute.

Und dann wurde ich gefragt, ob ich diesen Gastbeitrag schreiben möchte. Also habe ich mir das Video noch einmal in Ruhe angesehen. Und noch einmal. Und noch einmal. In die Augen dieses paralysierten Jungen gesehen, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Wie er fragend seine blutverschmierte Hand anschaut. "Warum ist das rot?", wird er denken. "Was ist passiert?", "Wo bin ich?", "Wer sind all die Menschen?", "Wo sind Mama und Papa?". Wahrscheinlich tot, Kleiner. Wahrscheinlich tot.

So ist es halt in Syrien

Damals habe ich dort unzählige Kinder wie ihn gesehen. Sie spielten mit Murmeln im Dreck des Flüchtlingslagers. Sie verkauften mir Zigaretten auf der Straße und Falafel im Restaurant. Sie gingen nicht zur Schule und im schlimmsten Fall griffen sie zur Waffe.

Syrischer Junge mit Zigarette im Mund

Dieses Foto von einem Jungen entstand bei Kochs Dreharbeiten in Syrien.

In wie vielen Interviews habe ich darüber gesprochen? Auf wie vielen Veranstaltungen? Was hat sich seitdem geändert? Nichts. Es ist alles nur noch schlimmer geworden. Aus 100.000 Toten wurden 300.000. Oder 400.000. Oder 500.000. Alles Zahlenspiele.

"Alles wird wieder aufgewühlt"

Syrien ist ein schwarzes Loch, das wie ein Dementor alle Freude aus dir raussaugt. Wenn Du es nur an dich ranlässt.

Jetzt, wo ich dieses Bild doch an mich rangelassen habe, wird alles wieder aufgewühlt. Das Leid der Syrer. Die Ungerechtigkeit der Welt. Das Versagen des Westens. Der Egoismus unserer Politik. Mein eigener Egoismus. Das Nichtstun. Das Wegschauen. Das nur um sich selbst kümmern. Das Alleinlassen dieses Jungen und Syriens.

Jetzt, wo dieser kleine Junge im Internet auftaucht, fällt es uns wieder ein. Syrien? Ach ja, stimmt. Für einen Sekundenbruchteil, wenn überhaupt, lösen wir uns vom Medaillenregen in Rio. Von Axtattacken und brennenden Flüchtlingsheimen. Von diffuser Terrorangst und der nächsten erwartbaren AfD-Posse. Für einen Sekundenbruchteil. Vielleicht auch für einen längeren Moment, wenn wir den blutverschmierten Jungen wirklich an uns ranlassen.

Wenn. Wenn wir dann innehalten und uns den Kleinen so ansehen, wird uns klar, wie gut es uns geht. Wie dankbar wir sein müssen für den selbstverständlichen Frieden und Wohlstand. Und überhaupt wie furchtbar ungerecht die Welt ja ist. Natürlich nicht so ungerecht, dass man für Syrien auf die Straße gehen würde. Bei Syriendemos war ich meist einer der einzigen Deutschen.

Meine erste Syrienkundgebung auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz besuchte ich im Januar 2014. Damals waren vielleicht 40 Leute da. 2015 schon 150. 2016 vielleicht 250. Bei Pegida laufen Zehntausende. Wie viele Flüchtlinge müssen noch kommen, damit Syriendemos da mithalten können? Zu viele.

Seit Jahren treffe ich bei diesen Veranstaltungen die immer gleichen Leute. Stammtischcharakter mit Deutsch-Syrern. "Meinst Du, dieses Jahr wird was passieren?" - "Nein." - "So ist es halt."

Bei Facebook teilen sie täglich die Artikel. Von den Russen. Von Streu- und Phosphorbomben. Von Verletzungen des Kriegs- und Völkerrechts. Davon, dass es niemanden interessiert. Sie posten sich die Seele aus dem Leib und fragen täglich: "Wo ist die Welt?" Damit habe ich aufgehört. Sie ist nicht da und fertig.

Und auch die Aufnahmen des blutverschmierten Gesichts des Jungen im Krankenwagen wird keine Luftbrücken bauen, keine Flugverbotszone errichten, keine Generäle davon abhalten, wieder einen Befehl für einen Luftangriff zu erteilen. Auf Krankenhäuser, Bäckereien und Zivilisten. Es wird sich nicht das Geringste ändern.

So war es damals. So ist es heute.