Erster Jahrestag des Archiveinsturzes
Hilfe, Wut und neuer Ärger
Stand: 02.03.2010, 15:44 Uhr
Dort, wo Kölns Historisches Archiv stand, klafft ein tiefes Loch. Hier starben zwei Menschen, wertvolles Archivgut ging verloren. Ein Jahr nach dem Unglück ist die Baugrube noch immer abgesperrt - und die Anwohner sind verunsichert.
Von Peter Schneider
Dieser Verunsicherung machen sie kurz vor dem Jahrestag des Unglücks bei einer Bürgerversammlung im Kölner Gürzenich Luft. Erboste Zwischenrufe, sich überschlagende Stimmen, Tränen - die Bürger sind wütend auf die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB), die Stadt und die Baufirmen. Doch die Antwort auf die Frage, wer letztlich die Schuld für das Unglück trägt, ist weiterhin offen. "Die Ermittlungen laufen", lautet der immer wieder zu hörende Kommentar der Staatsanwaltschaft. Ein Satz, den die Vertreter von Stadt und KVB auch bei der Bürgerversammlung auf dem Podium des Gürzenich wieder und wieder zitieren.
Niemand übernimmt die Verantwortung
So lange die Schuldfrage nicht geklärt ist, will auf Seiten von Stadt und KVB auch niemand die Verantwortung übernehmen. An dieser Haltung hat sich auch ein Jahr nach dem Unglück nichts geändert. Persönliche Konsequenzen aus der Kritik an seinem Krisenmanagement hat bislang nur der ehemalige Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) gezogen. Entgegen ursprünglicher Pläne trat er im vergangenen August nicht wieder zur Wahl um den Oberbürgermeister-Posten an.
Besichtigungsbauwerk soll Erkenntnisse bringen
Bis die Schuldfrage endgültig geklärt ist, können noch Monate vergehen. Denn bislang konnten die eingesetzten Gutachter die Schadensstelle nicht aus der Nähe betrachten. Dafür muss zunächst ein so genanntes Besichtigungsbauwerk errichtet werden, das es erlaubt, trockenen Fußes bis zur vermuteten Schadensstelle vorzudringen. Wann es soweit sein wird, ist noch offen. Dagegen hat das Amt für Brücken und Stadtbahnbau bereits damit begonnen, die Böschungen an der Einsturzstelle mit Spritzbeton zu sichern.
Soforthilfe und Entschädigung
Viel geändert hat sich indes für die Menschen, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Archivs wohnten und deren Häuser einstürzten oder abgerissen werden mussten. Gleich nach dem Unglück waren Anlaufstellen eingerichtet worden, die KVB zahlte 10.000 Euro Soforthilfe und brachte die Menschen im Hotel unter. 47 Haushalte waren betroffen und erhielten in der Folgezeit von der Stadt Angebote für neue Wohnungen. Bis zu 26 vorgeprüfte Wohnungen seien den Menschen angeboten worden, sagte eine Sprecherin der Stadt Köln. Mittlerweile hat jeder der Betroffenen eine neue Bleibe gefunden. 24 von ihnen konnten sogar in der Kölner Südstadt wohnen bleiben.
Großteil der Mieter "weitestgehend entschädigt"
Neben der Soforthilfe erhielten die Anwohner, Gewerbetreibenden und Hausbesitzer auch eine Entschädigung von der Stadt. Bis Mitte Februar 2010 wurden so insgesamt 4,4 Millionen Euro ausgezahlt. Nach Angaben der Stadt wurden die Entschädigungen unter anderem für materielle Schäden, Umzugskosten, Einnahmeverluste und Verdienstausfälle gezahlt. Insgesamt haben 259 Geschädigte Ansprüche angemeldet. Die Schäden von 177 Personen seien reguliert, teilte die Stadt mit. Von den Mietern seien bereits 91 Prozent "weitestgehend entschädigt".
Ärger über Sanierungskosten
Für die Gewerbetreibenden an der Severinstraße, die bereits seit Jahren eine Baustelle ist, hat die Stadt ein Sofortkreditprogramm aufgesetzt und ein so genanntes Veedelsmanagement ins Leben gerufen. Dennoch sehen viele Geschäftsleute ihre Existenz aufs Spiel gesetzt, denn die Kunden kommen kaum noch in die von Baustelle und Baulärm gezeichnete Straße. Umso erboster reagierten die Anwohner daher auf einen Plan der Stadt, die Kosten für die Sanierung der Fahrbahndecke auf die Anlieger umzulegen. 800.000 Euro sollten sie dafür zahlen, dass die Spuren des U-Bahnbaus verschwinden. Bevor die Empörung über einen entsprechenden Vorschlag der Stadtverwaltung höhere Wellen schlug, ließ Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) die Vorlage Ende Februar zurückziehen.
Kölner spendeten knapp 200.000 Euro
Schon kurz nach dem Unglück am Waidmarkt hatte es in Köln eine Welle der Hilfsbereitschaft gegeben. Neben freiwilligem Engagement bei der Reinigung des geborgenen Archivguts beinhaltete dies auch eine Fülle an Sach- und Geldspenden. Insgesamt standen für die Betroffenen schließlich 195.600 Euro zur Verfügung. "Dieses Geld ist ein Jahr nach dem Unglück komplett an die Geschädigten ausgezahlt worden, die je nach ihrer persönlichen Situation unterschiedlich gestaffelte Beträge erhielten", erklärt eine Sprecherin der Stadt. Die Höhe der Summe richtete sich unter anderem danach, ob die Menschen alles verloren hatten oder nur für eine längere Zeit ihre Wohnungen nicht benutzen konnten. Die Verteilung übernahm ein eigens dafür eingerichteter "Runder Tisch", dem unter anderem Vertreter der Kirchen angehörten.
27.000 Einsatzstunden
Vor ganz andere Probleme sahen sich die Planer bei der Feuerwehr gestellt. Auf insgesamt 27.000 Stunden summierten sich für Feuerwehr und Hilfsorganisationen die Einsatzzeiten am Waidmarkt. Während die ehrenamtlichen Kräfte unentgeltlich arbeiteten, erhielten die Frauen und Männer der Berufsfeuerwehr ihre Überstunden ausgezahlt. Ein Freizeitausgleich wäre nicht möglich gewesen - dazu hätte das Personal nicht ausgereicht.
Klagen gegen KVB und Stadt
Wenngleich die juristische Klärung der Schuldfrage noch offen ist, müssen sich bereits jetzt die Gerichte mit dem Unglück beschäftigen. Vier Anwohner klagten gegen die KVB auf Ersatz sämtlicher materieller und immaterieller Schäden aus dem Unglück. Diese Verfahren sind ebenso noch anhängig wie die Prozesse von fünf Kölnern, die gegen die Stadt klagen. Das Gericht muss darüber entscheiden, ob die Stadt für Schäden haftet, die an jenen Archivalien entstanden sind, die die Kläger dem Stadtarchiv zur Verfügung gestellt hatten. Ein erstes Urteil wird bereits am 16. März erwartet.
85 Prozent der Archivalien geborgen
85 Prozent der Archivalien - insgesamt wurden etwa 30 Regalkilometer verschüttet - sind mittlerweile geborgen, die Restaurierung wird noch Jahre in Anspruch nehmen. Sehr viel schneller wird es wieder ein Historisches Stadtarchiv geben. Als Bauplatz ist ein Areal am Eifelwall vorgesehen - mit Straßenbahnanschluss und weit weg von der U-Bahn-Baustelle. 2012 sollen dort die Bauarbeiten beginnen, spätestens 2016 sollen dann die Archivalien aus den derzeit genutzten provisorischen Räumen wieder zentral gesammelt werden.
Im gleichen Jahr soll auch die U-Bahn-Trasse nach Einschätzung von KVB-Vorstand Walter Reinarz endgültig fertig sein. Sofern die Bauarbeiten ab jetzt planmäßig verlaufen.