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Nachlass für Generationen

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Vor allem als temperamentvoll behalten seine Freunde ihn im Gedächtnis. Sein Nachlass wird noch Generationen beschäftigen.

Marcel-Reich Ranicki

"Aufrichtigkeit ist die erste Pflicht des Kritikers!" So sah Reich-Ranicki seine Aufgabe als Literaturkritiker. Von 1973 bis 1988 leitete er die Literaturredaktion der FAZ, von 1988 (mit Unterbrechungen) bis 2006 moderierte er im ZDF das "Literarische Quartett". Laut Umfragen kennen ihn bis zu 98 Prozent aller Deutschen.

"Aufrichtigkeit ist die erste Pflicht des Kritikers!" So sah Reich-Ranicki seine Aufgabe als Literaturkritiker. Von 1973 bis 1988 leitete er die Literaturredaktion der FAZ, von 1988 (mit Unterbrechungen) bis 2006 moderierte er im ZDF das "Literarische Quartett". Laut Umfragen kennen ihn bis zu 98 Prozent aller Deutschen.

Reich-Ranickis literarische Welt war riesig. Begreiflich wird das am Umfang seiner Büchersammlung. Den größte Teil davon hat er der Universität Marburg hinterlassen. Der Sohn des Literaturkritikers, Andrew Ranicki, sagte, es handle sich um "Abertausende" Bände. Darunter dürfte sich das gesamte Werk von Thomas Mann befinden. Den deutschen Schriftsteller und Nobelpreisträger hat er besonders geschätzt. Er gehört zu den bedeutendsten Erzählern deutscher Sprache im 20. Jahrhundert.

Auch die Schriftstellerin Sarah Kirsch hat Reich-Ranicki geschätzt und unterstützt. Die in Halbestadt geborene Kirsch gilt als eine der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen.

Unter den amerikanische Autoren las Reich-Ranicki besonders gerne Philip Roth. Seine Romane, Erzählungen und Essays wurden vielfach ausgezeichnet. In der Öffentlichkeit wird er seit Jahren als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur gehandelt.

Und noch ein US-Amerikaner: John Updike gehörte stets auch auf die Leseliste von Marcel Reich-Ranicki. Updike hat mehr als 20 bedeutende Romane und Sammlungen von Kurzgeschichten veröffentlicht, daneben mehrere Sammlungen von Essays und Gedichtbänden. Er hat zahlreiche amerikanische Literaturpreise und -auszeichnungen erhalten.

Fest in seine literarische Welt gehörte auch Ulla Hahn. Die in Monheim geborene Arbeitertochter, die das Abitur nachholte, wurde schon früh von ihm gefördert. Sie wurde besonders für ihre Lyrik bekannt, veröffentlichte aber auch Romane und Erzählungen.

"Fabelhaft! ... Aber falsch!" Mit diesen markanten Worten eröffnete Marcel Reich-Ranicki (rechts) gerne seine Kritiken. Davon häufig betroffen und attackiert: Sein Widerpart Hellmuth Karasek (links) im "Literarischen Quartett". Doch der nahm die ruppigen und direkten Attacken stets mit Humor. Zu Reich-Ranickis 90. Geburtstag gratulierte Karasek mit den Worten: "Er durfte das. Er war und ist ein großer Rechtehaber - weil er meistens recht hatte und recht behielt."

Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt 2008 die Laudatio auf Marcel Reich-Ranicki, als er für sein publizistisches Lebenswerk mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet wurde. Merkel lobte Reich-Ranicki: "Einfühlsamer kann man für mich die Kraft von Literatur und Musik, ja von Kunst und Kultur insgesamt kaum erfassen." Reich-Ranicki habe die "subtile Kraft der Ironie" beherrscht ebenso wie "die elegante pointierte Sprache." Ranicki war gerührt und hatte erzählt wie er Merkel zur Wendezeit kennenlernte. Damals dachte er, dass sie sicherlich einmal Ministerin werden würde. "Aber mehr nicht."

Ein erotisches Buch sorgte für den größten Eklat in der Geschichte des Literarischen Quartetts: Marcel Reich-Ranicki (rechts) geriet mit seiner Mitdiskutantin Sigrid Löffler (Mitte) über einen Roman des Japaners Haruki Murakami aneinander. Löffler hatte das Buch als "literarisches Fastfood" bezeichnet. Daraufhin warf Reich-Ranicki ihr vor, sie habe Probleme mit erotischen Büchern: "Sie halten die Liebe wohl für etwas anstößig Unanständiges." Und nach der Sendung bezeichnete Reich-Ranicki es als "Qual" mit Sigrid Löffler in einer Sendung zu diskutieren. Die stieg daraufhin im Juli 2000 aus der Sendung aus. Das Literarische Quartett wurde dennoch bis 2006 fortgesetzt.

"Geld macht nicht glücklich. Aber wenn man unglücklich ist, ist es schöner, in einem Taxi zu weinen als in einer Straßenbahn." Reich-Ranicki hat viele kleine Lebensweisheiten auf den Punkt gebracht. Sein Glück fand er in den Werken von Schiller - den hielt er für den größten deutschen Essayist. Privates Glück war die Ehe mit seiner Frau Theofila, die er im Warschauer Ghetto 1942 heiratete und mit der er bis zu ihrem Tod 2011 zusammen lebte. "Wir haben alles zusammen erlebt", sagte Reich-Ranicki. Trotzdem gab er zu, dass er auch Affären hatte. "Ich möchte keine einzige dieser Geschichten missen."

"Man muss übertreiben, um verstanden zu werden. Ohne Übertreibungen geht's nicht." Das war sein Erfolgsgeheimnis - und damit machte sich Marcel Reich-Ranicki nicht nur Freunde. Wenn er zum Beispiel scharf kritisierte, ein bestimmter Roman tauge nichts. Oder nur ein Kapitel sei gelungen. Oder der Schriftsteller verstehe nichts von Erotik. Doch diese klaren Worte - dafür liebten ihn seine Fans.

"Ich nehme diesen Preis nicht an. Ich gehöre nicht in diese Reihe." Mit diesen Worten wirbelt Marcel Reich-Ranicki den Deutschen Fernsehpreis im Jahr 2008 auf. Eigentlich sollte er am Ende der Gala als Höhepunkt den Preis für sein Lebenswerk erhalten. Doch als er nach mehreren Stunden endlich seinen Auftritt hatte, ärgerte er sich über die Show und kritisierte das deutsche Fernsehprogramm. Es sei "Blödsinn", was er an dem Abend zu sehen bekommen habe. Moderator Thomas Gottschalk versuchte sich als Streitschlichter - und bot Reich-Ranicki eine Sendung an, in der er über das Fernsehprogramm reden könne. Reich-Ranicki willigte ein.

Am 27. Januar 2012 - dem Holocaust-Gedenktag - spricht Marcel Reich-Ranicki vor dem Deutschen Bundestag als Zeitzeuge über seine Erlebnisse im Warschauer Ghetto: "Was die 'Umsiedlung' der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod." Seine eindringlichen Worte und persönlichen Schilderungen wurden später als "Rede des Jahres" ausgezeichnet.

Stand: 26.09.2013, 18:22 Uhr