Besucher der A40

Kulturhauptstadtjahr: Eine Bilanz aus drei Revierstädten

Selbstfindung im Städteschwarm

Stand: 07.12.2010, 06:00 Uhr

Ein Jahr lang hat sich das Ruhrgebiet nun selbst gefeiert - mit spektakulären Großaktionen, Projekten und tausenden Einzelveranstaltungen. Was hat das Jahr einzelnen Kommunen gebracht? Drei Kulturdezernenten ziehen Bilanz.

Von Katja Goebel

Die Stadt Essen als Bannerträgerin für das Revier hat sich das Kulturhauptstadtjahr einiges kosten lassen. Allein 8,6 Millionen Euro flossen aus dem städtischen Kultur-Etat in das Programm. Am Ende sind es aber nicht die spektakuären Großereignisse, an die der Essener Kulturdezernent Andreas Bomheuer denkt, wenn er nach rund einem Jahr für seine Stadt Bilanz ziehen soll. "Es ging nicht darum, Masse zu finden, sondern eine Nische". Es habe viele kleine Kooperationen in den Essener Stadtbezirken gegeben, die vorher gar nicht denkbar waren. "Da hat zum Beispiel das Essener Kunsthaus therapeutisches Malen in einem Seniorenstift angeboten." Neue Kooperationspartner innerhalb der eigenen Stadt finden - auch das sei ein Verdienst der Kulturhauptstadt.

Essen: Viele Touristen blieben über Nacht

"Die Identität mit der Stadt wächst", sagt Bomheuer und wundert sich heute noch über die täglich ausgebuchten Stadtrundfahrten. "Wer hätte gedacht, dass sich die Leute mal ihre eigene Stadt angucken. Dabei haben viele Leute auch erstmals den Domschatz gesehen. Die Goldene Madonna ist immerhin die älteste Vollplastik nördlich der Alpen."

Zusätzliches Glück für Essen: Großprojekte wie das neue Ruhrmuseum auf Zollverein oder das neue Folkwangmuseum sind zwar keine Kulturhauptstadtprojekte, wurden aber 2010 eröffnet und lockten so jede Menge zusätzliche Touristen in die Stadt. Die Übernachtungszahlen stiegen im Kulturhauptstadtjahr um rund 25 Prozent.

Den Nachbarn verstärkt im Blick

Doch was kommt nach der Aufbruchstimmung? Viele Städte und Gemeinden erwarten 2011 eine weitere Kürzung des Kulturetas. "Der Etat geht nach unten, aber den großen Aderlass erwarte ich nicht. Natürlich werden wir hier und da auch mal Preise erhöhen müssen, aber wie drastisch, darüber müssen wir reden", so Bomheuer. "Die Städte werden sich überlegen, wo sie künftig besser zusammen arbeiten müssen, welche Theater oder Museen kooperieren können, so wie es die Ruhrkunstmuseen im Kulturhauptstadtjahr vorgemacht haben. Die haben sich vernetzt und die Leute in Bussen von einem Museum ins andere gefahren." Man müsse angesichts drohender Sparmaßnahmen auch über die Stadtgrenze hinaus denken. "Menschen, die am Essener Stadtrand wohnen, wo vielleicht eine Bücherei geschlossen hat, könnten Büchereien in der Nachbarstadt nutzen. Darüber hat man doch vorher gar nicht nachgedacht."

Gelsenkirchen: Gewinn durch Vernetzung

Auch ein paar Kilometer weiter nördlich fällt die Bilanz positiv aus. "Ja, wir sind Gewinner der Kulturhauptstadt. Das hat unser Selbstbewusstsein gestärkt", sagt Volker Bandelow, Leiter des Kulturhauptstadtbüros Gelsenkirchen. Die Stadt habe allzu lange dieses "Hässliche-Entlein-Image" mit sich herumgetragen. Am Ende stemmte die Stadt 54 große Projekte. Das Geheimnis: "Wir haben die Konzeption der Ruhr 2010 ernst genommen und uns vernetzt. An vielen Projekten waren wir gemeinsam mit anderen Städten beteiligt." So lag die Verantwortung und auch die finanzielle Absicherung auf vielen Schultern verteilt.

Totgeglaubtes wiederbelebt

"Man muss nicht immer nur darauf schauen, was neu ist, sondern auch auf das, was sonst schon tot gewesen wäre", sagt Volker Bandelow. So gebe es mit dem Figurentheaterfestival und Märchenerzählfestival zwei Gelsenkirchener Projekte, die nur durch die Kulturhauptstadt wiederbelebt werden konnten. Plötzlich habe man ganz neue Sponsoren gefunden. Auch für das längst abgeschriebene Schloss Horst. "Vor der Kulturhauptstadt war dieser Ort mausetot, wir hatten keine Befürworter und keine Fördermittel. Durch einen Haushaltsstopp wurde das Konzept 2004 in die Tonne gekloppt." Jetzt gibt es einen Zuschuss vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe und im Schloss wird seit dem 6. November 2010 eine Dauerausstellung gezeigt. Auch der Museumsetat für das Gelsenkirchener Kunstmuseum wurde mit Blick auf das Kulturhauptstadtjahr von 25.000 auf 70.000 Euro aufgestockt. "Das Geld war bitter nötig, um Kunstwerke zu restaurieren."

Schwarm statt Metropole

"Es gibt keine Anzeichen dafür, dass wir ein Strohfeuer verbrannt haben. Trotz Haushaltslage und Krise werde ich in diesen Chor nicht mit einstimmen", sagt Bandelow, der den Ruhr-2010-Machern übrigens selbst eine erfolgreiche Projektidee vorgeschlagen hatte: die Schachtzeichen.

Und was hat man letztendlich aus dem Jahr gelernt? "Wir können uns nicht mit Paris oder London vergleichen, wo es ein Zentrum gibt, wo die Metropole aus einer Mitte heraus gewachsen ist. Wir sind ein Städteschwarm, wo viele Städte auf Augenhöhe mit einander stehen. Unser Ziel muss sein, dass sich viele gute Zentren zukünftig befruchten. Ich setze meine Hoffnung da auch in die nachhaltigen Projekte der Kulturhauptstadt, wie der Nacht der Jugendkultur, den Kulturkanal oder das Museumsnetzwerk."

Und noch eine Veränderung hat Volker Bandelow in Gelsenkirchen wahrgenommen. "Die Freie Szene, die sich anfangs oft ausgegrenzt fühlte, ist an der Kulturhauptstadt gewachsen. Die haben sich aus ihrem Widerstand heraus neu formiert und etwas auf die Beine gestellt."

Castrop-Rauxel: Große Bühne für Kleinkunst

Bei vielen Ruhrgebietsstädten herrschte 2010 Ebbe in der eigenen Kulturkasse. Ohne die "Kopfpauschale" des Landes hätten gerade kleinere Revierkommunen gar nichts zusätzlich auf die Beine stellen können. Zwei Euro pro Einwohner gab es vom Land, um 2010 den kulturellen Veranstaltungskalender zu füllen. Für eine Stadt wie Castrop-Rauxel ein Segen. "Wir sind eine gebeutelte Stadt und haben schon vor Jahren den Kulturetat völlig heruntergeschraubt", sagt Kulturdezernet Michael Eckhardt. Von den jährlich 400.000 Euro fließen in Castrop-Rauxel allein 340.000 Euro an das Westfälische Landestheater. "Wir haben also gerade einmal 60.000 Euro Spielgeld im Jahr zur Verfügung". Das eigene Kulturbüro sei längst abgeschafft. "Da haben uns die 150.000 Euro Landesmittel für 2010 natürlich sehr geholfen", bilanziert Eckhardt. 170 Veranstaltungen zählte die Stadt am Ende.

"Plötzlich konnten in der Stadt Kulturschaffende präsentiert werden, die vorher eher im Verborgenen agierten." So trat zum Beispiel eine kleine Theatergruppe der Stadt mit einer großen Ruhrrevue ins Rampenlicht, Geschichtskreise machten Bergbauhistorie vor großem Publikum öffentlich. "Unsere Veranstaltungen hatten viel mehr Besucher als sonst." Von Imagegewinn spricht Eckhardt trotzdem nicht. "Das waren keine Touristen, das waren die Leute aus der Stadt. Und die sind mir ehrlich gesagt auch lieber, als der Gast aus München, der sich mal zufällig in eine städtische Schulaula verirrt."