St. Johann Straße in Duisburg Hochfeld

Bürger sollen ein Tagebuch der Metropole Ruhr schaffen

Mietfrei wohnen für die Kunst

Stand: 29.05.2009, 17:39 Uhr

Ein Mietshaus mit 50er-Jahre-Charme, mitten im Duisburger Problemviertel Hochfeld. Das soll Kunst sein? Das wird es, verspricht Künstler Jochen Gerz und bietet Freiwilligen dafür Gratiswohnungen. Sie sollen Teil eines Kunstwerks werden.

Von Katja Goebel

Zwischen die roten und blauen Jugendstilbauten hat man irgendwann in den 50ern dieses Mietshaus gequetscht. Nichtssagend steht es da, in langweiligem Beige. Jetzt bröckelt der Putz am grauen Eingang, die meisten Briefkästen sind verwaist. Dennoch hat jemand einen frischen Aufnehmer hinter die Tür gelegt, an dem man sich die Füße abtreten kann. Drinnen dann senfgelber Rauputz und auf schwarzen Knöpfen steht ganz altmodisch das Wort "Klingel". So sehen sie also aus - die künftigen Künstlerhäuser des schräg anmutenden Projektes "2-3 Straßen". Im Kulturhauptstadtjahr 2010 sollen sie zu wahren Kreativquartieren mutieren.

Poesie in Duisburg-Hochfeld

Der in Berlin geborene Künstler Jochen Gerz, der für seine Arbeiten im öffentlichen Raum bekannt ist, hat seine eigene Vision für die Kulturhauptstadt: Der Einzelne soll nicht länger nur Zuschauer sein, sondern selbst Teil eines Kunstwerkes werden. Ach, ja? Und wie geht das?

Also von vorn: In Duisburg, Mülheim und Dortmund wird Bewerbern im Jahr 2010 mietfrei Wohnraum zur Verfügung gestellt - ein ganzes Jahr lang. Einzige Voraussetzung: Wer einzieht, soll kreativ werden. Bewohner werden mit Laptops ausgestattet und sollen schreiben, wie es sich so leben lässt in der Metropole Ruhr. Am Ende soll dann ein Buch daraus werden: Ein Tagebuch der Metropole Ruhr. "Das einzige Buch, dessen Autoren ich noch nicht kenne", freut sich Gerz und kneift verschmitzt die Augen zusammen.

"Ich will mich in meiner Stadt verewigen"

Seit mehr als drei Jahren treibt das Wohnprojekt den Künstler an. Annoncen hat er geschaltet und gehofft, es würde sich überhaupt jemand auf sein kreatives Experiment einlassen. Über 1.400 Menschen haben ihm geantwortet, sich schriftlich beworben, so wie Simone aus Dortmund. Die 38-Jährige wollte, dass mal was passiert in der Region. "Ich will mich in meiner Stadt verewigen", schreibt sie in das Bewerbungsschreiben. Mit Menschen wolle sie sprechen, die schon lange dort wohnen. Sie will sie auch fragen, warum.

Liebe zur Realität

"Das Ruhrgebiet hat die dichteste kulturelle Infrastruktur der Welt. Das ist doch wie Weihnachten, aber man sieht es den Leuten nicht an", sagt Gerz und kommt in Fahrt. "Was ist Kultur? Vielleicht ist sie ja schon bei den Menschen, sie sitzen nur mit dem Arsch drauf. Es gibt kreative Ressourcen, die können die Museen gar nicht alle abrufen." Die Kunst, sagt Gerz, soll raus auf die Straße. "Die Menschen sollen sich die Wirklichkeit angucken - so wie sie auf die Kunst gucken." Liebe zur Realität lautet am Ende des Künstlers größter Wunsch.

Kreative Wohngemeinschaft statt Leerstand

Jetzt haben also drei Ruhrgebietsstädte dem Künstler Wohnraum angeboten. 20 Wohnungen sind es allein in Duisburg. Wohnungen, die sowieso leer stehen, weil dort keiner wohnen will. Da kommt das Kunstprojekt doch glatt zur richtigen Zeit. Hochfeld, dieser "spannende Stadtteil" in dem 100 Nationen leben, könnte endlich aufgewertet werden, hoffen auch die Stadtvertreter, die das Projekt unterstützen - mit finanziellen Mitteln aus dem Kulturhauptstadt-Etat.

In Mülheim an der Ruhr werden die kreativen Autoren in Hochhäusern direkt am Bahnhof leben. Hier am Hans-Böckler-Platz gibt es freie Wohnungen zuhauf. Jetzt werden die Häuser erst einmal komplett saniert. Und auch in Dortmund werden sie mitten in der Innenstadt einziehen. Das soll belebende Wirkung haben.

Auch der Nachbar ist Kunst

Doch was sollen die Leute schreiben? Nun, das müsse kein klassisches Tagebuch werden, sagt Gerz, das wäre auch zu einfach. Es könne um Politik oder Menschlichkeit gehen oder Beschreibungen, wie ein vernünftiges Miteinander in solch enger Nachbarschaft funktioniert.

Irgendwo zwischen Hochkultur und Bürgertum will Karl-Heinz Petzinka, der Künstlerische Direktor der Ruhr 2010, das Gerz-Projekt sehen. "Es wird auch Reibungen geben, aber das ist das Wesen der Kulturhauptstadt. Vielleicht werden die Nachbarn neidisch auf die Künstlernomaden schauen. Vielleicht halten nicht alle, die jetzt einziehen, bis zum Ende durch. Von 1400 sind zur Zeit noch 220 ernsthafte Kandidaten übriggeblieben. Es seien Bewerber aus der ganzen Welt dabei.

Und während der Künstler durch seine Kunstwohnung streift, werden im Haus gegenüber schon die Gardinen gelupft. Zwei ältere Damen beobachten angestrengt das Treiben im beigen Bau. Für Petzinka ein echter Grund zur Freude. "Sehen Sie, diese Bürger sind schon an unserer Kunst beteiligt."