Hochhaus in Mülheim

Halbzeit für das Projekt "2-3 Straßen"

Kulturgeschichten auf 20 Etagen

Stand: 30.06.2010, 00:01 Uhr

Hinter dem Mülheimer Hauptbahnhof thront dieser Klotz aus Beton. 220 Wohnungen verteilt auf 20 Etagen. Früher Angstraum, heute Kunstprojekt. Auf allen Fluren haben sich Autoren eingenistet. Sie sind seit sechs Monaten lebendiger Teil einer Ausstellung.

Von Katja Goebel

Vor einem Monat haben sie mit 25 Leuten einen Kaffeeklatsch in Helsinki veranstaltet. Vier Wochen zuvor waren sie in Athen zu Gast. Jannie Schmitz lacht. Ja, jedes Stockwerk in dem Hochhaus trägt den Namen einer europäischen Hauptstadt, erzählt die Holländerin, die vor einem halben Jahr in diesen Riesen zog. Es geht hinauf mit dem Fahrstuhl in die 20. Etage. Vorbei am Schwimmbad mit Sauna. Auf den Fluren überall Teppich, Holzbänke vor dem Aufzug. Kaum zu glauben, dass der gigantische Bau mit seinen 220 Wohnungen noch vor Jahren eine Mülheimer No-Go-Area war. Zu diesem Haus mit dem einst so ramponierten Image pilgern im Jahr der Kulturhauptstadt sogar Besuchergruppen.

Neues aus dem Pott

Je höher der Besucher fährt, umso spektakulärer wird die Aussicht. Hier wartet in jeder Etage eine Überraschung. Denn: Dieser Klotz aus Beton und Stahl ist für ein Jahr Kunstort und Experiment in einem. "2-3 Straßen" heißt das ungewöhnliche Ruhr 2010-Projekt. 19 neue Bewohner verfrachtete Künstler Jochen Gerz in jedes einzelne Stockwerk des Mülheimer Hochhauses. Ein Jahr lang dürfen die Fremden mietfrei in dem Kasten wohnen. Dafür müssen sie schreiben - an einem Buch über ihr neues Leben im Pott. Insgesamt beteiligen sich 70 Menschen in drei Ruhrgebietsstädten an dem Kunst-Experiment.

Holland trifft aufs Revier

Auch Jannie aus Venlo lebt jetzt also hier. Die 28-jährige Designerin hat in den letzten Monaten viele Interviews gegeben, in unzählige Kameras gelächelt und stets freundlich fremde Menschen in ihrer Wohnung empfangen. Jannie Schmitz ist jetzt schließlich Teil einer Ausstellung. Mit so einem Wirbel hat sie gar nicht gerechnet und muss zugeben, sich vorher wenig Gedanken über das Wohnen im Revier gemacht zu haben. Jetzt aber staunt sie über den Gasometer in Oberhausen oder über Trinkhallen-Kultur und Stehcafés ("das gibt es in Holland gar nicht"). Sie entdeckt Bottroper Haldenberge vom Balkon aus und liebt Zollverein in Essen. Doch vor allem macht sie in ihrem Wohnblock ständig neue Bekanntschaften.

Irgendwann hat sie die Nachbarn schließlich eingeladen, hat eine Kaffeetafel mitten im Hausflur gedeckt und der Dame von nebenan noch schnell ein Kuchenrezept entlockt. Mittlerweile gibt es den Kaffeklatsch monatlich immer auf einer anderen Etage. Sie wissen schon - mal in Helsinki, mal in Athen, im Juli vielleicht in London. Am Ende des Jahres will Jannie aus den Kuchen-Rezepten ihrer Mülheimer Nachbarn ein Buch machen.

Kunsträume und Heimatgeschichten

Das Projekt "2-3 Straßen" ist für Erfinder Jochen Gerz eine Ausstellung, in der es eigentlich nichts zu sehen gibt, in der die Bewohner selbst das Event sind. ".. und am Ende wird meine Straße nicht mehr die gleiche sein" - so das Motto. Doch wie schaffen es die neuen Bewohner die Aufmerksamkeit der alten Mieter zu bekommen? Mit Ausdauer und immer neuen Ideen. So bittet beispielsweise Gina zum Boule-Spiel auf den Ascheplatz vor dem Haus, Sala malt regelmäßig mit Kindern, Eva und Paul bieten Computerkurse, Kevin und Sebastian veranstalten Kunstausstellungen in der eigenen Wohnung. Und Rudi bringt ausländische Nachbarn dazu, in großer Runde von ihren Heimatländern zu erzählen. "Hausreise" nennt der Schweizer das. Als beim letzten Mal eine tunesische Familie an der Reihe war, hat Rudi ihr Stockwerk kurzerhand in Tunis umgetauft.

Was sie bei ihren Begegnungen erleben, schreiben die Bewohner auf. Erste Einblicke in diese Gedankenspiele kann man bereits im Essener Folkwangmuseum nachlesen. In der dortigen Dauerausstellung hängt ein Monitor, der fortwährend Textpassagen ausspuckt. Wer alles lesen will, muss dreieinhalb Wochen bleiben.

Frau Zimmermann bleibt skeptisch

Ulrike Zimmermann hingegen bleibt skeptisch. Seit Jahren schon wohnt die Mülheimerin in dem Hochhaus am Hans-Böckler-Platz. Und obwohl sie sich über "die Neuen" im Haus freut, kann sie mit der Gerz'schen Idee nichts anfangen. "Mir ist gar nicht klar, was der eigentlich will. Für mich hat der Gerz nen Pin im Kopf." Da muss auch Jannie lachen. "Kommst du heute Abend zur Vernissage?", fragt Jannie hoffnungsvoll. "Nee, ich guck Fußball", sagt Frau Zimmermann. "Aber zum Endspiel zwischen Holland und Deutschland bist du jetzt schon eingeladen."

Gruppenführung durchs Arbeitszimmer

Zur gleichen Zeit drängelt sich ein paar Stockwerke tiefer eine Frauenreisegruppe aus Stuttgart im kleinen Arbeitszimmer von Architektin Karolin. Die Berlinerin gehört ebenfalls zu den Autoren des Projekts und nun soll sie dem Besuch aus Süddeutschland erzählen, wie die Ruhris denn so ticken. "Hier wird man eigentlich ständig angequatscht", sagt Carolin. Der Berliner wäre da vergleichsweise unfreundlich.

Beim Blick aus dem Fenster wundert sich der Besuch aus dem Süden noch über das viele Grün in der Stadt. Dann werden statt Kaffee und Kuchen Laptops gereicht. Jeder, der das Haus besucht, darf seine Gedanken da lassen. "Wir sind Teil eines Projektes, obwohl wir es noch nicht verstanden haben", schreibt jemand. Nebenan entsteht ein Textcollage aus frischen Reiseeindrücken: "Kaltes graues Hochhaus, Möbel auf dem Balkon, viel Wald, gesprächige Menschen, Regionalstolz".

Wie formulierte es doch Jannie so nachdenklich am Küchentisch: "Am Ende des Jahres hat man wahrscheinlich vor allem etwas über sich selbst erfahren. Vielleicht ist auch das der Sinn dieses Projektes."