Gespräch mit einem Wuppertaler in Tokio

"Nicht-Japaner werden verunsichert"

Stand: 27.03.2011, 09:00 Uhr

Viele Ausländer sind aus Japan geflohen. Andreas Stuhlmann lebt mit seiner Familie in Tokio und will dort auch bleiben. Ein Gespräch über Sicherheitsgefühl und die Katastrophe in den Medien.

Der 42-jährige gebürtige Wuppertaler lebt seit 13 Jahren in Japan. Er arbeitet als Übersetzer und ist mit einer Japanerin verheiratet. Die beiden haben zwei Söhne, sechs und neun Jahre alt.

WDR.de: Herr Stuhlmann, viele Ausländer sind aus Japan geflüchtet. Haben Sie nicht auch daran gedacht, Tokio zu verlassen?

Andreas Stuhlmann: Doch. In der ersten Woche nach der Katastrophe gab es extrem viele Nachbeben. Als mich ein stärkeres nachts aus dem Schlaf gerüttelt hat, habe ich drei Taschen für den Notfall gepackt und sie ins Auto gelegt. Meine Schwiegereltern wohnen rund 200 Kilometer westlich von Tokio entfernt, das wäre eine Option. Aber meine Frau, die sehr gelassen auf alles reagiert, wollte lieber hier bleiben. Mittlerweile haben die Nachbeben nachgelassen und ich hoffe, dass nichts Schlimmes mehr passiert. Aber ich weiß auch, dass es noch lange dauern wird, bis Entwarnung kommt.

WDR.de: Das hört sich auch gelassen an. Sind sie es wirklich?

Stuhlmann: Man muss jetzt schon die Nerven behalten. Nach all der Zeit, die ich hier bin, hat die japanische Gelassenheit womöglich auf mich abgefärbt. Im Moment ist es vielleicht das einzig richtige, um nicht wahnsinnig zu werden. Ständig daran zu denken, die Radioaktivität könnte nach oben gehen oder noch ein Tsunami könnte kommen - das würde das Leben hier enorm erschweren.

WDR.de: Reden Sie viel darüber mit ihrer Familie oder ihren Nachbarn?

Stuhlmann: Eigentlich nicht. Man erwähnt mal etwas zwischendurch. Aber ansonsten versucht man so zu tun, als ob nichts wäre.

WDR.de: Fühlen Sie sich denn gut informiert durch die japanischen Regierung?

Stuhlmann: Inzwischen hat die Regierung verstanden, dass sie mehr und genauere Informationen geben muss. Vielleicht war es aber auch in den ersten Tagen so, dass eigentlich niemand so genau wusste, was los ist. Es kann allerdings sein, dass mehr Informationen vorhanden sind, als publik gemacht werden. Jedenfalls war es gut, keine Panik zu verbreiten. Bei fast 30 Millionen Menschen im Großraum Tokio wäre das fatal gewesen.

WDR.de: Informieren Sie sich auch woanders?

Stuhlmann: Natürlich verfolge ich auch die Berichterstattung in Deutschland, Europa und Amerika. Da wird viel spekuliert. Woher will zum Beispiel der "Spiegel" wissen "Fukushima - Wie es wirklich war" - so hieß es ja dort. Das wissen ja noch nicht einmal Spezialisten rund um das Atomkraftwerk. Leute wie ich, die Nicht-Japaner, werden durch solche ausländischen Berichte stark verunsichert. Und dann bekomme ich natürlich auch E-Mails von Freunden, die mich dazu anhalten, Tokio zu verlassen, weil es so gefährlich sein soll. Das geht nicht spurlos an einem vorüber. Es ist anstrengend.

WDR.de: Wie berichteten denn die japanischen Medien?

Stuhlmann: Sobald sich etwas Neues ergibt, kann man das erfahren: Etwa wie sich die Strahlung rund um Fukushima entwickelt und wie stark das Leitungswasser verstrahlt ist. Seit Tagen wird auch thematisiert, wie die Katastrophe im Ausland wahrgenommen wird - nämlich teilweise sehr übertrieben und zum Teil falsch. Fehler können schon beim Übersetzen passieren. Dann entsteht so etwas wie Stille Post: Aus "nicht unter Kontrolle" wird "außer Kontrolle". Das ist natürlich ein Riesen-Unterschied. Ich verlasse mich lieber auf die Information hier. Das ist schließlich die erste Quelle.

WDR.de: Ein Beispiel?

Stuhlmann: Unter anderem verfolge ich über Ustream Pressekonferenzen des Anti-AKW-Zentrums CNIC (Citizens Nuclear Information Center). Da ist häufiger der Nuklearspezialist Masashi Goto dabei, ein ehemaliger Toshiba-Ingenieur, der für die Sicherheitsvorkehrungen der Atomreaktoren zuständig war. Goto kann die Lage sehr sachlich einschätzen. Er ist eine Art Barometer für mich: Ich achte genau darauf, wie nervös oder besorgt er ist.

WDR.de: Sie sprachen eben das Leitungswasser an. Hat es Sie beunruhigt, dass die Werte zeitweise als gefährlich für Säuglinge eingestuft wurden?

Stuhlmann: Eigentlich nicht. Wenn das schlimmer geworden wäre, dann bestimmt. Aber sie sind ja gesunken. Aber ich hatte direkt nach der ersten Atommeldung vor zwei Wochen einige Plastikflaschen mit Wasser gefüllt - mit dem Gedanken "Kann nicht schaden". Die standen dann in der Küche herum, aber gebraucht haben wir das normale Leitungswasser - auch als die radioaktive Belastung stieg.

WDR.de: Wie hat sich denn ihr Leben seit der Katastrophe vor gut zwei Wochen verändert?

Stuhlmann: Es sind eigentlich nur Kleinigkeiten. Wir machen weniger Licht, um Energie zu sparen. Im Geschäft gibt es mal keine Milch, mal keine Eier. Aber die bekommt man dann woanders. Verstrahltes Gemüse aus der Region um Fukushima habe ich noch nicht im Supermarkt gesehen. Und wenn, dann wäre es als solches gekennzeichnet. Auch die Bahnen fahren wieder fast ganz nach Plan. Vergangene Woche gab es große Verspätungen, meine Frau kam einige Male später von der Arbeit.

WDR.de: Und ihre Kinder - wie haben die alles verkraftet?

Stuhlmann: Sie konnten von einem auf den anderen Tag nicht mehr in die Schule gehen, weil die Lehrer das Land Richtung England oder USA verlassen haben. Die Jungs sind bisher auf internationalen Schulen. In der ersten Woche nach der Katastrophe waren sie nur zu Hause, gingen nicht raus wegen der Nachbeben. Der Kleine hat sich sofort unter dem Tisch versteckt, sobald die Erde bebte. Mittlerweile können sie wieder auf den Spielplatz. Es sieht so aus, dass sie bald wieder in die Schule gehen können. Das hat man uns jedenfalls signalisiert.

WDR.de: Haben sie denn so etwas wie ein Gefühl der Sicherheit?

Stuhlmann: "Sicherheit" ist schwer zu definieren, daher würde ich eher sagen, ich fühle mich im Moment "nicht unsicher". Solange es zu keiner Kettenreaktion im Atomkraftwerk kommt, mache ich mir keine großen Sorgen. Schlimm wäre auch, wenn es dauernd regnet und die Werte im Wasser steigen und steigen.

WDR.de: Unter welchen Umständen würden Sie denn nach Deutschland zurückgehen?

Stuhlmann: Das steht jetzt auf jeden Fall nicht an.

Das Gespräch führte Lisa von Prondzinski.