Interview mit der Autorin Anne Siemens (Teil 2)
"Nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft"
Stand: 21.05.2007, 00:00 Uhr
Der Staat hat in den 70er Jahren nicht alle Möglichkeiten zur Geiselbefreiung genutzt - sagen Angehörige von RAF-Opfern in Interviews mit der Journalistin und Politikwissenschaftlerin Anne Siemens.
WDR.de: Wie stehen die Angehörigen und Überlebenden zu den Attentätern?
Autorin Annette Siemens
Anne Siemens: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt Familien, die darüber nachgedacht haben, mit den Tätern in Kontakt zu treten und es dann doch nicht getan haben. Es gibt andere Familien, die das ganz klar für sich ausgeschlossen haben, weil sie darin keinen Sinn sehen und sich das auch nicht antun wollen. Patrick von Braunmühl ist der einzige meiner Interviewpartner, der sich mit jemandem aus der RAF getroffen hat. Er hat Birgit Hogefeld, die zur dritten RAF-Generation gehörte, ein Mal im Gefängnis besucht. Er hat sich von dem Gespräch Auskunft erhofft über die internen Prozesse der RAF und die Frage, wie die Opfer ausgewählt wurden. Diesen Fragen ist Birgit Hogefeld eher ausgewichen. Wer in der RAF war, folgt dem Kodex, niemand anderen aus der Gruppe zu verraten.
Peter-Jürgen Boock und seine Angaben über Stefan Wisniewski etwa sind da eine Ausnahme und eine neue Entwicklung der letzten Wochen. Wobei hier ja auch noch zu prüfen ist, ob seine Angaben wirklich glaubwürdig sind. Patrick von Braunmühl sagt, dass er zwar diese Begegnung gesucht habe, es aber eine ziemliche Überwindung sei, da in einen Kontakt zu treten. Sollten Leute aus der RAF bereit sein, für die Angehörigen wichtige Fragen zu beantworten, wäre das in seinen Augen ein wichtiger Schritt. Aber, so Patrick von Braunmühl, was man sich als Angehöriger sicher nicht wünscht, dass RAF-Mitglieder als Teil einer Wiedergutmachungsstrategie auf einen zugehen.
WDR.de: Mehrere Angehörige und Überlebende kritisieren das Verhalten der damaligen Bundesregierung. Zum Beispiel spricht Clais Baron von Mirbach, Sohn des in Stockholm ermordeten Verteidigungsattachés, davon, "dass der Rechtsstaat den Mord nicht verhindert hat, sondern im Gegenteil einen treuen Diener geopfert hat". Haben die Angehörigen auch unter den politischen Entscheidungen gelitten?
Erschossen: Andreas Baron von Mirbach
Siemens: Die Krisenstäbe 1975 und 1977 haben entschieden, nicht auszutauschen, was bedeutet, dass Geiseln in Folge dieser Entscheidung ermordet wurden. Natürlich leiden die Angehörigen unter diesen Entscheidungen - wobei niemand in Frage stellt, dass diese die schwersten der politisch Verantwortlichen waren. Zugleich gibt es unter den Familien, die von dem Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm betroffen sind, aber Gedanken und Kritik dahingehend, dass damals nicht alle Möglichkeiten und Spielräume im Umgang mit den Geiselnehmern ausgeschöpft wurden, dass etwa nicht versucht wurde, zu taktieren und vielleicht auch zu täuschen, wie es dann etwa 1977 bei der Befreiung der Landshut getan wurde.
WDR.de: Welche Überlegungen standen hinter Ihrer Entscheidung, ein Interview mit Helmut Schmidt ins Buch aufzunehmen?
Versteht Kritik: Helmut Schmidt
Siemens: Ich fand wichtig, dass das Gespräch das Buch einem Nachwort ähnlich abschließt. Helmut Schmidt war mit seinen Krisenstäben in vielen Fällen einer der wichtigen Entscheidungsträger. Seine Erinnerungen an die Opfer, aber auch zum Beispiel an die Vorgänge der Schleyer-Entführung runden das Bild ab. Die Kritik der Familie Schleyer an der damaligen Vorgehensweise der Bundesregierung empfindet Helmut Schmidt als verständlich und moralisch in Ordnung. Den teils in der Öffentlichkeit kursierenden Vorwurf, so Helmut Schmidt, Hanns Martin Schleyer sei geopfert worden, weise er aber zurück. Auf die Frage, ob er Schuld an den Morden von 1975 und 1977 empfinde, sagt er: Mitschuld, schon. Aber es sei in beiden Fällen kaum möglich gewesen, keine Schuld auf sich zu laden - kein Versäumnis zu begehen, trotz allen Bemühens.
Das Interview führte Dominik Reinle.
Zurück zum ersten Teil: Die Angehörigen wollen Klarheit über die RAF-Morde.