Stichtag

20. Dezember 2004 - Urteil im Fall Daschner

Der Entführer ist ein Bekannter der Familie: Der Jurastudent Magnus Gäfgen lockt am 27. September 2002 den elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler in seine Wohnung in Frankfurt am Main - und erstickt ihn. Anschließend erpresst der 27-Jährige eine Million Euro Lösegeld von den Eltern. Als die Polizei ihn bei der Übergabe am 30. September fasst, behauptet Gäfgen, der Junge lebe noch. Dessen Aufenthaltsort verschweigt er aber.

Nach stundenlanger Befragung sind die Beamten keinen Schritt weiter. Sie gehen davon aus, dass das Kind noch am Leben ist. "Die Gefahr für Jakob wurde größer und das Zeitfenster für uns wurde immer kleiner", sagt der Polizeibeamte Ortwin Ennigkeit später. Er erhält am 1. Oktober von Frankfurts Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner die Anweisung, Gäfgen mit Gewalt zu drohen. "Ich hab ihm ganz klipp und klar gesagt, was Herr Daschner vorhat", erinnert sich Ennigkeit. "Wenn er jetzt nicht sagt, wo der Junge ist, dass jemand kommen wird, der ihm Schmerzen zufügen wird." Gäfgen knickt ein und nennt den Fundort der Leiche. Sie wird nordöstlich von Frankfurt an einem See gefunden.

Aktennotiz über Folterandrohung

Daschner schreibt noch am selben Tag einen internen Vermerk über seine Anweisung: "Zur Rettung des Lebens des entführten Kindes habe ich angeordnet, dass Gäfgen nach vorheriger Androhung unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen erneut zu befragen ist." Die von einem Beamten dagegen "erhobenen moralischen Bedenken" seien "in einer weiteren Besprechung" zurückgestellt worden. Kriminalhauptkommissar Ennigkeit sei angewiesen worden, "den Beschuldigten auf die bevorstehende Verfahrensweise vorzubereiten." Daschner informiert auch die Staatsanwaltschaft: "Mir war von Anfang an klar, dass gegen mich ermittelt werden würde."

Im Februar 2003 wird Daschners Vermerk öffentlich bekannt und löst eine Debatte aus, ob Folter und ihre Androhung unter bestimmten Umständen legitim sein können. Auch für den Prozess gegen Gäfgen hat die Aktennotiz Bedeutung: Das Gericht beschließt ein Verwertungsverbot aller Vernehmungsprotokolle. Das Urteil gegen ihn bleibt davon aber unbeeinflusst: Gäfgen wird am 28. Juli 2003 wegen Mordes aus Habgier zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Die Polizisten Daschner und Ennigkeit müssen sich ebenfalls vor Gericht verantworten. Staatsanwalt Wilhelm Möllers ist "der Ansicht, dass die Grenze zwischen erlaubten polizeilichen Vernehmungsmethoden und verbotenen Handlungsweisen überschritten worden ist."

Geldstrafe auf Bewährung

Jede Androhung von Gewalt - auch durch Polizisten - verstößt gegen das Grundgesetz und internationale Konventionen. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Geert Mackenroth, meint jedoch angesichts der Konfliktsituation der Beamten: "Die Frage ist eben, ob es von diesem Grundsatz Ausnahmen gibt." Dawid Danilo Bartelt von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht das anders: Die Menschenwürde sei ein Rechtsgut, "das nicht abgewogen werden kann - weder gegen die Menschenwürde eines anderen Menschen noch gegen das Leben eines anderen Menschen."

Diese Ansicht vertritt auch das Frankfurter Landgericht und spricht Daschner am 20. Dezember 2004 der Verleitung zu schwerer Nötigung schuldig. Die Stresssituation und Daschners Vermerk werten die Richter als strafmildernd. Er wird lediglich zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Die disziplinarrechtlichen Ermittlungen werden eingestellt. Auf seinen Posten kehrt er nicht zurück, dafür übergibt ihm Hessens Innenminister Volker Bouffier (CDU) die Leitung einer 350-köpfigen Behörde: Daschner wird Chef des Präsidiums für Technik, Logistik und Verwaltung (PTLV) der hessischen Polizei.

Starb Jakob auch einen "juristischen Tod"?

2008 geht Daschner in den Ruhestand. Über seine Verurteilung äußert er sich öffentlich nur im 2011 erschienenen Buch "Um Leben und Tod" seines ehemaligen Mitarbeiters Ennigkeit. Dort schreibt er im Nachwort: "Am 20. Dezember 2004 starb Jakob von Metzler zum zweiten Mal - einen juristischen Tod - als die Frankfurter Justiz sein Recht auf Leben, Menschenwürde und Freiheit geringer wertete als das Wohlbefinden seines Entführers und Mörders."

Stand: 20.12.2014

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