"Der diesjährige Nobelpreis für Literatur ist dem französischen Schriftsteller Jean-Paul Sartre zuerkannt worden", teilt die Königlich-Schwedische Akademie am 22. Oktober 1964 in Stockholm mit. Die Begründung lautet: "Für sein Werk, das durch seinen Freiheitssinn und seine Wahrheitssuche einen großen Einfluss auf unser Zeitalter ausgeübt hat." Doch statt Freude und Lobreden folgt ein Eklat: Sartre lehnt die Auszeichnung ab. Das haben vor ihm nur zwei Geehrte getan: 1925 nimmt George Bernard Shaw nur das Preisgeld an und verschenkt es an eine englisch-schwedische Literaturstiftung; 1958 wird der russischen Schriftsteller Boris Pasternack von seiner Regierung zum Verzicht gezwungen.
Auf die Frage, weshalb er auf die höchste literarische Auszeichnung verzichte, antwortet Sartre zunächst: "Weil ich nicht einsehe, warum 50 alte Herren, die schlechte Bücher schreiben, mich auszeichnen sollten. Die Leser sollen sagen, was ich wert bin. Nicht diese Herren!" Der Schriftsteller und Philosoph fühlt sich wohl etwas überfahren: "Zuvor hatte Sartre in einem Artikel im 'Figaro' gelesen, dass er einer der Kandidaten wäre für den Nobelpreis", so Vincent von Wroblewsky, Präsident der Deutschen Sartre-Gesellschaft. Daraufhin habe er der Akademie einen Brief geschrieben und seinen Verzicht angekündigt: "Nach bestimmten Informationen, die ich heute erhalten habe, soll ich einige Chancen haben, dieses Jahr den Nobelpreis zu bekommen." Aus persönlichen und sachlichen Gründen, "die hier nicht dazulegen sind", wünsche er jedoch, nicht auf der Liste möglicher Preisträger zu erscheinen. "Weder 1964 noch später kann und will ich diese ehrenvolle Auszeichnung annehmen", so Sartre.
Presse kritisiert "abstoßenden Hochmut"
Freiheit ist das zentrale Thema Sartres - sowohl in seinen Theaterstücken, Romanen als auch in seiner Philosophie des Existenzialismus, die ihn nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt machte. Seine philosophische Kernthese lautet: "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt." Der Satz mute zwar paradox an, sagt Vincent von Wroblewsky. "Aber das heißt: Was man auch tut, man tut es auf Grundlage einer freien Entscheidung, selbst wenn man sich vormacht, dass man nicht frei ist." Man sei verantwortlich für das, "was man ist und was man tut".
Der Sekretär der Königlich-Schwedischen Akademie hätte den bevorstehenden Skandal noch verhindern können. Doch er ist zu dieser Zeit im Urlaub und erhält Sartres Brief zu spät. Die französische Presse kommentiert die Entscheidung des Schriftstellers mit Formulierungen wie "Sartre auf den Scheiterhaufen!", "Abstoßender Hochmut!" und "Sartre - der Totengräber des Abendlandes". Doch der Beschimpfte bleibt bei seiner Entscheidung: "Die Akademie hat mir bereits mitgeteilt, dass die Frage der Annahme oder Ablehnung nicht Bestandteil ihrer Satzung ist." Aber er bleibe frei, den Preis nicht abzuholen und das Geld nicht anzunehmen.
Sartre will keine Institution werden
In einem Interview, das Sartre der schwedischen Presse gibt, liefert er die Gründe für seine Entscheidung nach. Persönlich habe er offizielle Ehrungen immer abgelehnt: "Als man nach dem Krieg, 1945, meine Aufnahme in die Ehrenlegion vorschlug, habe ich verzichtet, obwohl ich Freunde in der Regierung hatte." Ein Schriftsteller solle sich weigern, "sich in eine Institution verwandeln zu lassen, selbst wenn es - wie hier - unter den ehrenvollsten Bedingungen geschieht." Sachlich spreche gegen eine Annahme des Preises, dass die Auszeichnung im damals herrschenden Kalten Krieg "den Schriftstellern des Westens und den Rebellen des Ostens vorbehalten ist." In einer anderen Stellungnahme bezeichnet Sartre die Nobelpreis-Vergabe als Versuch der "Vereinnahmung": "Dass man fast alle, die gegen die herrschende Klasse - welcher Art auch immer - schreiben oder handeln, mit Ehrungen, Geld oder subtileren Dingen überhäuft, damit sie etwas nachlassen mit ihrem Druck."
Vor der schwedischen Presse sagt der Schriftsteller: "Ich verzichte auf 250.000 Kronen, weil ich weder im Osten noch im Westen institutionalisiert werden möchte." Ein paar Jahre später soll Sartre allerdings über einen Mittelsmann angefragt haben, ob er die Dotierung nachträglich doch erhalten könne. Davon berichtet der Schwede Lars Gyllensten in seinen Memoiren, in denen er Interna der Nobel-Jury veröffentlicht. Nach Angaben des ehemaligen Mitglieds der Schwedischen Akademie sei die Bitte abgelehnt worden, weil das Geld bereits wieder in das Vermögen der Stiftung übergegangen sei.
Stand: 22.10.2014
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.