"Lehrzeit = Leerzeit" überschreibt der "Der Spiegel" 1970 eine Titelstory über die Zustände in der Berufsausbildung. Anlass dazu ist ein geharnischter Protest von 133 Lehrlingen des Münchener Siemens-Konzerns.
In einer Resolution zum Lehrabschluss haben sie die "undemokratische und unpädagogische Ausbildungspraxis" bei Siemens angeprangert. Der Konzern lässt die Vorwürfe prüfen und muss einräumen: Ohrfeigen, Genickschläge mit der Handkante, bewusst verursachte blutige Verletzungen und psychische Erniedrigungen aller Art durch Vorgesetzte gehören bei Siemens zum Ausbildungsalltag.
Auf eine Lehrlingsfrage, wie er auf Widerstand gegen solche Maßnahmen reagieren würde, hat ein Meister laut "Spiegel" geantwortet: "I tat dich dem Erdboden gleichmacha, so dass' dich auf der Bahr' abitragn kenna!"
Langer Abschied von der Prügelstrafe
Nicht nur bei Siemens sind skandalöse Zustände Anfang der 1970er Jahre gang und gäbe. Die meisten Lehrlinge würden noch nach teils mittelalterlichen Zunftregeln ausgebildet, zitiert das Magazin den Bildungsforscher Dietrich Winterhager. Dabei untersagt ein Gesetz seit langem brutale Übergriffe gegen Auszubildende.
"Körperliche Züchtigung sowie jede die Gesundheit des Lehrlings gefährdende Behandlung sind verboten", heißt es in der am 27. Dezember 1951 novellierten Gewerbeordnung. Das noch aus dem Jahr 1900 stammende Recht der Lehrherren zur "väterlichen Zucht" ist damit abgeschafft. Was Demütigungen durch Prügel seelisch anrichten können, ist schon im Mittelalter bekannt. "Niemals pflanzt die Rute Kindern ein das Gute. Wer zu Ehren kommen mag, dem gilt Wort soviel als Schlag", schreibt vor 800 Jahren der Dichter Walther von der Vogelweide.
Auch der Volksmund weiß schon lange: "Wer einen Teufel herausprügelt, der wird neun hineinprügeln". Doch erst im Zeitalter der Aufklärung geraten Körperstrafen allmählich in Verruf und gewinnt gewaltfreies erzieherisches Denken einflussreiche Fürsprecher. Erste Fortschritte sind 1714 das Verbot der Folter in Preußen und 1848 die Abschaffung der Prügelstrafe in der Zivil- und Militärgerichtsbarkeit durch König Friedrich Wilhelm IV.
Lehrer dürfen aus "Gewohnheitsrecht" züchtigen
An Schulen und im Elternhaus gelten Züchtigungen bis weit ins 20. Jahrhundert als geeignetes Erziehungsmittel. Während die neu gegründete DDR Körperstrafen an Schulen verbietet, preist ein bundesdeutscher Pädagogikratgeber noch in den 50ern die heilsame Wirkung des Kleiderbügels, vor allem "des aus Buchenholz gefertigten und polierten Bügels für Herrenkleidung, wobei man immer den eisernen Haken vorher herausschraubt."
Lehrern spricht der Bundesgerichtshof sogar noch 1957 ein "generelles Gewohnheitsrecht" zum Prügeln zu. Als zweckmäßig empfehlen die BGH-Richter "maßvolle Schläge mit dem Rohrstock auf die Hand oder auf das Gesäß". 1972 wird das Züchtigungsrecht der Pädagogen bundesweit abgeschafft; in einigen Ländern – vor allem in Bayern - vergehen allerdings Jahre, bis sich die Lehrer daran halten. Zu Hause bleibt es weiter den Eltern überlassen, wie sie ihre Kinder bestrafen.
Seit der gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau 1958 dürfen Vater und Mutter gleichermaßen Schläge austeilen. Ob Backpfeife oder Bügel, Rohrstock oder Teppichklopfer: Strenge und eine ordentliche Tracht Prügel haben noch keinem geschadet – so die weit verbreitete Auffassung in der Bevölkerung. Erst 1998 erklärt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) körperliche und seelische Misshandlungen für unzulässig. Im Jahr 2000 spricht der Gesetzgeber Kindern und Jugendlichen grundsätzlich das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zu.
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