12. November 1996 - Karlsruher Entscheidung zu Todesschüssen an DDR-Grenze

Stand: 12.11.2016, 00:00 Uhr

Schusswaffeneinsatz, Minen, Selbstschussanlagen: Zwischen 1961 und 1989 werden an der innerdeutschen Grenze mindestens 270 Menschen von DDR-Sicherheitskräften getötet. Die 1999 von der Berliner Staatsanwaltschaft vorlegte Zahl berücksichtigt allerdings nur die nachgewiesenen Todesfälle, die eindeutig durch Gewalteinwirkung verursacht worden sind. Nicht eingerechnet sind Personen, die auf der Flucht – nach Aktenlage – ohne Fremdverschulden starben, etwa bei Unfällen oder beim Ertrinken in der Ostsee.

Nach der Wende bestreiten die politischen Verantwortlichen der DDR die Existenz eines Schießbefehls und berufen sich auf Anweisungen aus Moskau. Grenzsoldaten und -offiziere wiederum geben an, nur auf Befehl ihrer Vorgesetzten gehandelt zu haben. Als jedoch Dokumente gefunden werden, die belegen, dass der ehemalige Staatsratsvorsitzende Erich Honecker in einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates den Einsatz von Schusswaffen an der Grenze gefordert hat, wird Anklage erhoben. Am 12. November 1992 wird am Berliner Landgericht der Prozess gegen den einst mächtigsten Mann der DDR eröffnet.

Mielke: Flüchtende müssen "dableiben"

Mit Honecker müssen sich fünf weitere Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates wegen Anstiftung zum Totschlag vor Gericht verantworten. Darunter ist auch der ehemalige Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, der unverblümt seine Sicht schildert: "Wenn man schon schießt, dann muss man es so machen, dass nicht der Betreffende noch wegkommt, sondern dann muss er eben dableiben bei uns."

Honecker und die anderen Angeklagten berufen sich im Prozess auf das DDR-Recht, das Schüsse bei Republikflucht erlaubte. Er ist empört darüber, dass in einem früheren Verfahren zwei Grenzsoldaten verurteilt worden sind. "Es ist ein Skandal, dass diese Grenzsoldaten inhaftiert wurden, denn diese Grenzsoldaten haben ja nichts anderes getan als ihre Pflicht – getreu ihrem Eid – zu verwirklichen."

Umstrittenes Rückwirkungsgebot

Das Verfahren gegen Honecker und Mielke muss krankheitsbedingt eingestellt werden. Die übrigen Angeklagten werden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Auch den Mitgliedern des Politbüros der DDR wird der Prozess gemacht. Egon Krenz, der Honecker als Staatschef abgelöst hat, will sich vor Gericht damit entlasten, dass er zumindest den sogenannten Todesstreifen humaner gemacht habe: "Es ist ja bekannt, dass ich der Einzige der Angeklagten hier bin, der mit den Beschluss gefasst hat, die Minen abzubauen. Das ist meine größte Lebensniederlage, dass ich nicht verhindern konnte, dass es Tote und Verletzte an der Grenze gibt."

Im Zentrum der Mauerschützen-Prozesse steht die Grundsatzfrage des Rückwirkungsverbots, das im Grundgesetz verankert ist. Es lautet: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen war." Können sich also die Angeklagten darauf berufen, dass das DDR-Grenzschutzgesetz die Schüsse auf Republikflüchtlinge legitimierte? Das Bundesverfassungsgericht verneint diese Frage. Es entscheidet am 12. November 1996: "Wegen der menschenverachtenden Staatspraxis in der DDR war das Verhalten der Grenzer nicht legitimiert. Dies hätten sie erkennen können." Das Vertrauen in die DDR-Gesetze sei daher nicht durch das Rückwirkungsverbot geschützt.

Todesschüsse sind strafbar

Damit haben die Karlsruher Verfassungsrichter klargestellt, dass die Todesschüsse an der DDR-Grenze strafbar sind. Die bereits verurteilten Mitglieder der DDR-Führung müssen ihre Haftstrafen antreten. Darunter ist auch Krenz, der zu 6,5 Jahren Haft verurteilt wird. Er ist mit dem Urteil nicht einverstanden: "Die Alt-Bundesbürger dürfen auf das Rückwirkungsverbot vertrauen, die DDR-Bürger nicht. Wir haben jetzt also in Deutschland nicht nur Bürger erster und zweiter Klasse, sondern auch Recht erster und zweiter Klasse."

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