Um drei Uhr morgens macht sich Reinhold Messner am 27. Juni 1970 alleine auf den Weg. Der Südtiroler hat 39 Tage darauf gewartet, den 8.125 Meter hohen Nanga Parbat im Himalaya zu besteigen. Weil das Wetter nicht mitspielt, hat das Expeditionsteam den Aufstieg immer wieder verschoben.
Schließlich schlägt Reinhold Messner vor: "Ich gehe vom letzten Lager solo allein zum Gipfel. Da bin ich doppelt so schnell wie zu zweit." Sein Bruder Günther soll mit einem anderen Expeditionsteilnehmer bei Sonnenaufgang Sicherungsseile spannen, damit Reinhold einfacher absteigen kann.
Günther Messner ändert den Plan
Doch der jüngere Bruder steigt Reinhold – entgegen der Absprache – nach. Auf knapp 8.000 Metern treffen sie zusammen und erreichen gemeinsam den Gipfel. Beim Abstieg bemerkt Reinhold, dass Günther ständig stolpert und an der Höhenkrankheit leidet. Damit ist klar: Über die steile Rupalwand, über die sie aufgestiegen sind, können sie nicht mehr hinab.
Was dann passiert ist, darüber gehen die Berichte auseinander. Expeditionsteilnehmer werfen Reinhold Messner später vor, er habe seinen erschöpften Bruder in die Steilwand zurückgeschickt, um allein über die Diamir-Flanke abzusteigen. Das hat vor ihm noch niemand gewagt; damit würde er Geschichte schreiben.
Den Bruder dem Ehrgeiz geopfert?
Dagegen berichtet Reinhold Messner immer wieder, wie er versucht hat, den erschöpften Bruder nach unten zu bringen. Nach zwei Tagen und Nächten lassen wohl auch Reinholds Kräfte nach.
Als sie auf ein Labyrinth aus Gletscherspalten treffen, verschwindet der Bruder. "Während ich vorausging, ist er in einer Mulde, in die ich nicht einsehen konnte, unter eine Lawine geraten. Das habe ich erst gemerkt, als er nicht nachkam", erzählt Messner später.
Sieben erfrorene Zehen
Er sucht den Bruder vergeblich, irrt alleine weiter ins Tal, halluziniert und wird von Einheimischen – mehr tot als lebendig – gefunden. Sieben erfrorene Zehen müssen dem Bergsteiger abgenommen werden. Der Vorwurf, Reinhold Messner habe den Bruder aus Ehrgeiz im Stich gelassen, bleibt jedoch und beschäftigt jahrelang Gerichte und Medien.
Erst als 2005 eine Gletscherleiche im Diamir-Tal gefunden wird, kommt ein wenig Licht in die Geschichte. Eine Gen-Analyse bestätigt, dass der Gefundene Günther Messner ist. Der Tod des Bruders belastet Reinhold Messner dennoch weiter: "Die Schuld liegt ja darin, dass ich überlebt habe. Und der andere nicht."
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