1098 - Geburtsjahr der Universalgelehrten Hildegard von Bingen

Nicht viele Frauen des Mittelalters sind heute noch bekannt. Hildegard von Bingen aber ist beinah ein Popstar, eine Ikone dieser Zeit: Sie wird als Theologin, Naturforscherin, Dichterin, Komponistin und Geschäftsfrau geschätzt.

Als Hildegard von Bingen erklärt, dass sie göttliche Visionen hat und diese sogar aufschreibt, steht sie praktisch mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen. Wie soll sie beweisen, dass ihre Eingebungen von Gott und nicht von Satan kommen?

Zum Glück erfährt der Papst von der forsch-frommen Frau und ihren Visionen. Er hält sie für glaubwürdig und erklärt sie für göttlich. Hildegard hat nun Unterstützung von höchster Stelle.

Mann und Frau gleichberechtigt

Das ist auch nötig, denn Gott ermutigt sie zu revolutionären Aussagen, etwa über die weibliche Sexualität. Detailliert schildert Hildegard von Bingen die Vereinigung von Mann und Frau, sie erklärt sogar anschaulich einen weiblichen Orgasmus. Eine erfüllte Sexualität beider Geschlechter ist im Grunde gut, sie ist Teil einer umfassenden Liebe - solche Ideen sind für Kirchenvertreter und Theologen nicht nur in der damaligen Zeit ungewohnt.

Für Hildegard ist nicht Eva die böse Verführerin und verantwortlich für den Sündenfall, so wie es viele Kirchenväter sehen. Vielmehr sind Adam und Eva gleichermaßen die Opfer teuflischer List. Für sie sind die Geschlechter gleichberechtigt.

Hildegard von Bingen, "Popstar" des Mittelalters (Geburtsjahr, 1098) WDR ZeitZeichen 10.03.2023 15:02 Min. Verfügbar bis 10.03.2099 WDR 5

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Geboren wird Hildegard von Bingen im Jahr 1098 in der Pfalz, das genaue Geburtsdatum ist nicht bekannt. Als Kind geben ihre Eltern sie zu den Benediktinern auf dem Disibodenberg. Dieses Männerkloster erlaubt, dass es dort eine Frauengruppe gibt. Es ist ein progressives Umfeld, denn eine neue Form von Frömmigkeit macht sich in Europa breit. Die Menschen glauben nicht mehr an einen herrschenden, sondern an einen liebenden Gott. Das gilt auch für Hildegard, die mit 36 Jahren Leiterin des Konvents wird.

Universalgelehrte und Kultfigur

Die Äbtissin gilt als arbeitswütig. Um 1150 erscheint "Scivias" ("Wisse die Wege"), das erste ihrer drei Visionsbücher. Doch sie ist nicht nur Prophetin, Theologin, Klostermanagerin und Schriftstellerin, sondern auch Komponistin und Naturforscherin. Sie arbeitet wissenschaftlich und forscht im Bereich Heilkräuter und Heilmethoden. Mit ihren Schwestern führt sie eigene Musikstücke auf. Bereits zu Lebzeiten wird die Universalgelehrte zu einer Kultfigur.

Das Mitte des 12. Jahrhunderts von ihr gegründete Frauenkloster auf dem Rupertsberg in Bingen wird zur Pilgerstätte. Selbst gekrönte Häupter wie König Heinrich II. von England oder Kaiser Barbarossa schreiben ihr Briefe. Belgische Mönche senden gleich eine meterlange Liste theologischer Fragen. Sie möchten wissen, ob in der Hölle wirklich mit Holz geheizt wird und echte Flammen nach sündigen Leibern lechzen. Doch die Frage nach der ewigen Verdammnis stellt sich ihr nicht. Ein gütiger Gott ist nicht derjenige, der Menschen am Ende ins Höllenfeuer schickt.

Im hohen Alter von 81 Jahren stirbt Hildegard von Bingen und gerät schnell in Vergessenheit. Allerdings wird sie danach immer wieder als Projektionsfläche für verschiedene Weltanschauungen entdeckt: in der Renaissance als unerschrockene Frau unter mächtigen Männern, im 19. Jahrhundert für die deutsche Volksfrömmigkeit. Heute sieht man das Konterfei der Kirchenfrau auf Verpackungen für Kräutertees und Körnerkost. 2012, weit über 900 Jahre nach ihrer Geburt, spricht Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen heilige - die Frau, die für Beweglichkeit und Veränderung plädiert hat.

Autorin des Hörfunkbeitrags: Steffi Tenhaven
Redaktion: David Rother​

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