Rudolf Fleischmanns Herz schlägt wie das Herz eines Schülers vorm ersten Rendezvous. Viele hundert Kilometer ist der Stadtverordnete aus dem tschechischen Städtchen Proseč im Sommer 1936 mit der Bahn und dem Flugzeug in die Schweiz gereist. Nun steht der kleine Mann mit dem freundlich-rundlichen Gesicht und den zurückgekämmten schwarzen Haaren vor der Haustür des von ihm verehrten Thomas Mann in Küssnacht am Zürichsee.
Getippt auf Manns Schreibmaschine
Zuvor ist Fleischmann beim tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš in Prag gewesen, um von ihm die Erlaubnis zu erhalten, Mann die Staatsbürgerschaft seines Landes anzutragen. Nun darf er auf Manns Schreibmaschine eine Vollmacht des Schriftstellers tippen – ebenso wie einen persönlichen Antrag zur Gemeindezugehörigkeit an den Stadtrat von Proseč.
Thomas Mann setzt seine Unterschrift unter das Dokument. "Es muss ein unglaublicher Moment für diesen deutschen Schriftsteller gewesen sein, der mit seinem ganzen Leben und seiner Seele der deutschen kulturellen Tradition verpflichtet war, damit zu brechen", wird Fleischmann das Ereignis später kommentieren.
Zustimmung trotz Angst vor den Nazis
Für Thomas Mann kommt das Angebot gerade zur rechten Zeit. Seit 1933 wird er mit seiner Frau Katja auf der Grundlage einer "Toleranzbewilligung" der Fremdenpolizei nur geduldet: Nach der Machtübernahme Hitlers ist er in der Schweiz geblieben, ohne sich zur Emigration zu entschließen. Nach kritischen Bemerkungen zum Nationalsozialismus sorgen die NS-Behörden dafür, dass er seinen deutschen Pass im Konsulat nicht mehr verlängern kann – und die Möglichkeit zur Einbürgerung in der Schweiz zerschlägt sich. Als Fleischmann vor der Tür steht, droht ihm als "Volksschädling" zudem der Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft.
Die Stimmung im Stadtrat von Proseč ist keineswegs eindeutig – auch aus Angst vor Konsequenzen aus Deutschland. Erst als der Priester in seiner Sonntagspredigt aus Manns Romanwerk "Joseph und seine Brüder" zitiert, wendet sich das Blatt. Am 18. August 1936 wird der Einbürgerungsantrag des Schriftstellers mit zwölf von 18 Stimmen angenommen.
Zwei Wochen später steht Manns Name auf der Ausbürgerungsliste des "Völkischen Beobachters". Genüsslich führt der Schriftsteller aus, "dass dieser Akt, da ich schon seit 14 Tagen tschechoslowakischer Staatsbürger bin, jeder rechtlichen Bedeutung entbehrt. Von seiner geistigen Bedeutungslosigkeit brauche ich nicht zu reden."
"Rudolf Fleischmann, dem Mann von Proseč"
1937 reist Mann als nunmehr einziger Nobelpreisträger des Landes mit seinem neuen Pass zuerst nach Prag und dann nach Proseč um sich zu bedanken. Später wird er die amerikanische Staatsbürgerschaft annehmen.
Rudolf Feischmann muss wegen der Aktion nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag 1939 um sein Leben fürchten. Der Retter Manns wird selbst zum Flüchtling: Er geht nach England. 1949 treffen sich die Exil-Tschechoslowaken wieder. Mann schreibt eine Widmung in einen Band mit Erzählungen: "Rudolf Fleischmann, dem Mann von Proseč".
Autor des Hörfunkbeitrags: Martin Herzog
Redaktion: Hildegard Schulte
Programmtipps:
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 18. August 2021 an die Einbürgerung Thomas Manns. Das "ZeitZeichen" gibt es auch als Podcast.
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