6. September 1941 - Das Ghetto von Vilnius wird eingerichtet

Stand: 09.08.2021, 13:36 Uhr

Nirgends werden die Juden so früh und so schnell getötet wie in Litauen. Vor dem Massenmord steht der Umzug ins Ghetto - auch in Vilnius, dem "Jerusalem des Ostens"

Das Ghetto von Vilnius wird eingerichtet (am 06.09.1941) WDR ZeitZeichen 06.09.2021 14:45 Min. Verfügbar bis 07.09.2099 WDR 5

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Rikle Glezer aus Vilinus ist 18 Jahre alt, als sie den Tag beschreibt, der ihr Leben für immer verändert hat. "S'iz geven a zumertog", so beginnt ihr Lied auf Jiddisch, "es ist gewesen ein Sommertag wie ständig sonnig, schön... Es haben Vögel gesungen, und sind fröhlich umher gesprungen." Eine Idylle - aber eine, hinter der das Grauen lauert. Die Strophe endet unheilschwanger: "Man hat uns befohlen, in das Ghetto zu gehen."

Es ist der 6. September 1941, als Zehntausende Menschen mit jüdischen Wurzeln in das Ghetto in der Altstadt von Vilnius (Wilna) umziehen müssen. Die Wehrmacht hat die litauische Stadt beim Überfall auf die Sowjetunion Ende Juni besetzt, die SS folgt ihnen auf dem Fuß und beginnt damit, die jüdische Bevölkerung zu drangsalieren - mit Enteignungen, Judenstern und Massenerschießungen draußen vor den Toren der Stadt. Ermordet werden vor allem die, die nicht per Schein nachweisen können, dass ihre Arbeit wichtig ist.

Hunger, Kälte und Selektion

Dann werden ganze Straßenzüge geräumt, um für die Ghetto-Insassen Platz zu schaffen - wie in fast allen anderen Städten Osteuropas, in die die Deutschen eingefallen sind. Im "Großen Ghetto" werden 29.000 Menschen zusammengepfercht, im "Kleinen Ghetto" gleich nebenan noch einmal 11.000. Ihre Zahl sinkt, weil die Erschießungen immer weiter gehen. Aber ihre Not hinterm Stacheldraht wächst: Ohne Brennholz und Lebensmitteln sind sie Kälte und Hunger schutzlos ausgesetzt, die hygienischen Verhältnisse sind verheerend, ständig drohen Razzien.

Lieder von Brot und Liebe

Und doch gibt es ein Kulturleben im Ghetto der Stadt, das seit Jahrhunderten als "Jerusalem des Ostens" berühmt ist. Viele Bewohner schreiben Tagebuch - wichtige Quellen für die Nachwelt. Sie hören Vorträge und lesen, was die Ghetto-Bibliothek hergibt, auch polnische Groschenhefte. Sie schreiben Theaterstücke, führen ein Musical auf und singen: Lieder vom Brotschmuggel, vom Liebesschmerz und auch von der Revolte.

Denn es gibt junge Menschen, die sich zur Wehr setzen wollen. Sie gründen im Januar 1942 eine Partisanenorganisation, finden aber im Ghetto nur wenig Unterstützung. Wer kann, flieht in die Wälder zu den sowjetischen Widerstandskämpfern. Auch Rikle Glezer gehört dazu - und schreibt in den Kampfpausen weiter ihre Lieder.

Das Sterben geht weiter

Am 25. September 1943 wird das Ghetto aufgelöst. Aber das Sterben geht weiter: Die wenigen Überlebenden werden in Arbeitslager oder gleich ins KZ verschleppt. Bei Kriegsende leben von den rund 60.000 Juden in Vilnius nur noch 3.000. Insgesamt fallen 200.000 Menschen dem deutschen Vernichtungsfeldzug in Litauen zum Opfer. Die Verantwortlichen und ihre Helfer werden nie verurteilt.

Rikle Glezer überlebt den Krieg. Ihre Spuren verlieren sich in den Nachkriegswirren, aber ihre Lieder werden immer noch gesungen - so wie das vom Sommertag: "Und jetzt ist wieder Sonnenschein, prachtvoll riecht alles ringsherum. Und wir sind Gepeinigte, und leiden alle stumm."

Autorin des Hörfunkbeitrags: Irene Dänzer-Vanotti
Redaktion: Hildegard Schulte

Programmtipps:

"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 06. September 2021 an die Einrichtung des Ghettos in Vilnius. Das "ZeitZeichen" gibt es auch als Podcast.

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