Welche moralischen Fragen wirft unsere Gesellschaft auf?

In der Ethik geht es um die Voraussetzungen, aber auch um die Bewertung menschlichen Verhaltens. Wie handelt und entscheidet man so, dass es gut ist? Das unmittelbare Miteinander wird hier verhandelt – aber zugleich auch die übergeordnete Ebene eines Geflechts von Normen, unser Miteinander zu gestalten. Wie schnell und wie konfliktreich beides zusammenkommen kann, hat die Coronapandemie mit ihren komplexen ethisch-moralischen Fragestellungen gezeigt.

Nun leben wir in einem Zeitalter der Wissenschaften und der technischen Realisierbarkeit von Möglichkeiten, von denen frühere Generationen noch nicht einmal zu träumen wagten. Das reicht von der Gentechnik über die Biomedizin bis hin zur Digalisierung bzw. zur Künstlichen Intelligenz. Man kann da durchaus von einem Umbau der Natur sprechen. Zugleich hat eine gesellschaftliche Liberalisierung stattgefunden, die es uns erlaubt, eigenständige und freie Entscheidungen zu treffen, ohne dass wir an eine gegebene Norm, etwa durch die Kirche, gebunden sind. Dadurch wird diese Frage noch drängender: Was ist "gut" von dem, was machbar ist – und was nicht? Und: Auf Basis welcher Argumente können wir hier überhaupt eine Bewertung vornehmen?

Der Münsteraner Philosoph Ludwig Siep ist einer der herausragenden Ethiker. In seiner "konkreten Ethik" hat er ein Grundlagenwerk zu den moralischen Fragen der technisierten Wissensgesellschaften entwickelt. Ludwig Siep ist ein Brückenbauer, der die theoretische mit der praktischen Philosophie zu verbinden sucht – und hier nach Lösungen fahndet, die eine angewandte Ethik möglich machen, die aber doch auf klassischem Fundament fußt.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der Ethik ein? Brauchen wir mehr Moral – oder schränken moralische Bedenken die Freiheit und die Entwicklung zu sehr ein? Welche Rolle spielt die Ethik in Ihrem Alltag?

(Interviewaufzeichnung Juni 2024)

Redaktion: Gundi Große