Lesefrüchte

"Geliebte Mutter - Canım Annem" von Çiğdem Akyol

Stand: 17.01.2025, 13:16 Uhr

Als junge Frau wurde Aynur von ihrem Bruder mit einem Mann verheiratet, den sie nicht wollte. Als Mutter schlägt sie selbst ihre Kinder.

Mehrere Töchterromane mit ganz unterschiedlichen Blicken auf die jeweiligen Mütter sind in jüngster Zeit erschienen. Marlen Hobrack rechnet in "Erbgut" auf, was materiell und ideell von ihrer Mutter bleibt. Caroline Peters erzählt in "Ein anderes Leben" von einer bürgerlichen Bohème-Kindheit und von der Suche nach dem eigenen Weg. Çiğdem Akyol, 1978 als Tochter türkischer Eltern in Herne geboren, setzt sich mit einer komplizierten Mutter-Beziehung auseinander.

Akyol, ist bisher als Reporterin bekannt und als Autorin zweier Sachbücher: einer Biografie über den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und über die Türkei als "Die gespaltene Republik". Der Debütroman ist nun ihrer eigenen Mutter gewidmet. Dass Çiğdem Akyols Buch "Geliebte Mutter" heißt, überrascht zunächst. Denn die Kindheit von Meryem, aus deren Perspektive der Roman überwiegend erzählt ist, ist von Lieblosigkeit und Gewalt geprägt.

Der Vater schlägt die Mutter und verspielt das Geld der Familie. "Nur ein Mädchen" seufzt die Mutter enttäuscht, als Meryem auf die Welt kommt. Sie und ihr Bruder Ada werden von den Eltern regelmäßig verprügelt. Als Bestrafung sperrt Aynur Meryem auch schon mal stundenlang in den Kleiderschrank.

Çiğdem Akyol erzählt in Zeitsprüngen, mal aus Meryems personaler Perspektive, dann wieder macht sie Meryem zur Ich-Erzählerin oder schwenkt kurz zu anderen Figuren. Diese Wechsel verdeutlichen den suchenden Charakter des Romans. Man merkt Akyols Sprache an, dass sie als Reporterin arbeitet. Die Szenenbeschreibungen sind plastisch, die Straßen von Istanbul mit ihren Sesamkringel-Händlern sieht man genau so vor sich wie die "traurigsten Häuser", die Aynur je gesehen hat, in Herne. Stellenweise ist etwas pathetisch die Rede von "unglaublichem Liebesschmerz" oder etwas umständlich davon, dass Aynurs Mutter etwas "befand".

Seltene Ausreißer in einem Roman, der sonst in drastisch-deutlichen Bildern und mit großer Empathie beschreibt, wie Gewalt Ohnmacht und neue Gewalt gebiert, warum Meryem dennoch "warmtraurige Dankbarkeit" für ihre Mutter empfindet, die sie immerhin hat ziehen lassen, ihr Türen geöffnet hat in ein anderes Leben. "Geliebte Mutter" erzählt auch davon, wie es Meryem schließlich gelingt, beiden Eltern zu verzeihen. Ein schrecklich-schöner Roman.

Eine Rezension von Dina Netz

Literaturangaben:
Çiğdem Akyol: Geliebte Mutter - Canım Annem
Steidl Verlag, 2024
240 Seiten, 24 Euro