Zunehmend sind Menschen mit den Herausforderungen von Stress, Angst und Depressionen konfrontiert – das geht aus dem akutellen Psychoreport der DAK hervor. Der Arbeitsausfall durch psychische Erkrankungen ist auf einen neuen Höchststand gestiegen. 2022 wurden 301 Fehltage je 100 eigene Versicherte verzeichnet. Im Zehn-Jahres-Vergleich bedeutet das einen Anstieg um 48 Prozent. Dazu kommen die Nachwirkungen der Coronapandemie, Kriege und Krisen.
Aber wer eine Therapie machen will, braucht häufig erstmal viel Geduld. Etwa fünf Monate warten Menschen durchschnittlich auf einen freien Therapieplatz. Dabei gibt es eigentlich genug Therapeutinnen und Therapeuten. Laut statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland etwa 48.000 approbierte Psychotherapeutinnen und Therapeuten. Nach Angaben der kassenärztlichen Bundesvereinigung haben aber nur 32.500 eine Kassenzulassung oder sogenannten Kassensitz - quasi eine Genehmigung der Krankenkassen, um gesetzlich Versicherte zu behandeln.
Etwa die Hälfte hat sogar nur einen halben Kassensitz. Darf also gar nicht sein volles Therapiekontigent über Krankenkassen abrechnen. Die restlichen 15.500 Therapeutinnen und Therapeuten ohne einen solchen Kassensitz dürfen zwar praktizieren, die Patienten müssen das aber privat bezahlen.
Zu wenig Kassensitze?
Für die Bundespsychotherapeutenkammer ist die Sache klar: Es gibt zu wenig dieser Kassensitze. Das hat sie gegenüber dem WDR betont. Im Ruhrgebiet beispielsweise liegt die geplante Psychotherapeutendichte mit 21 Psychotherapeutinnen und Therapeuten je 100.000 Einwohner deutlich unter der tatsächlich benötigten Anzahl. Die langen Wartelisten würden das belegen, sagt die Kammer. Bei den jetzigen Kapazitäten für Psychotherapien könne rechnerisch eigentlich nur 10 Prozent der Erkrankten tatsächlich eine Therapie bekommen, sagte die Bundepsychotherapeutenkammer und bezieht sich dabei auf wissenschaftliche Untersuchungen.
Die Zahl der Kassensitze ist in Deutschland begrenzt durch die sogenannte Bedarfsplanung aus 1999. Verantwortlich dafür ist der sogenannte gemeinsame Bundesauschuss (G-BA). Dieses Gremium entscheidet, wie viele Therapeuten und Ärtzinnen sich wo niederlassen dürfen und welche Leistungen von Krankenkassen übernommen werden. Darin sitzen Vertreterinnen und Vertretern der Vertragsärzteschaft, der Vertragszahnärzteschaft, der gesetzlichen Krankenkassen und der Krankenhäuser.
Die eigentliche Idee: ländliche Regionen stützen
Die Bedarfsplanung sollte eigentlich verhindern, dass Ärztinnen und Therapeuten nur in attraktiven Großstädten praktizieren. Es soll dadurch auch eine Versorgung in ländlichen Gebieten geben. Wenn es keine Kassensitze in Köln mehr gibt, müssten die Therapeuten eben auch nach Castrop-Rauxel oder Rommerskirchen, so die Idee.
Die G-BA schätzte damals ein, dass die Versorgung im Jahr 1999 gut sei und nahm das damalige Verhältnis von Therapeuten zu Einwohnern in den jeweligen Kreisen und Städten als Soll-Zustand. Mehr Therapeuten als zum Stichtag 1999 sollten nicht zugelassen werden. Erst wenn ein Sitz frei würde, sollte ein neuer Therapeut oder Therapeutin sich in der jeweiligen Region niederlassen dürfen – quasi als Ersatz für den gehenden Therapeuten.
Geklappt hat das offenbar nicht: Ländliche Gebiete haben in der Bedarfsplanung nämlich weniger Kassensitze als Großstädte obwohl es wissenschaftlich keinen Belege dafür gibt, dass Menschen auf dem Land weniger psychisch erkranken. Grund dafür ist, dass schon 1999 weniger Therapeutinnen in ländlichen Gebieten tätig waren, als in Großsstädten. Auch das Ruhrgebiet kommt mit 21 Psychotherapeutinnen und Therapeuten je 100.000 Einwohner auf einen unterdurchschnittlichen Wert verglichen mit anderen Großsstädten.
2019 wurde nachgebessert
2019 erkannte man, dass die bisherigen Therapeutinnen und Therapeuten nicht reichten und einigte sich im G-BA auf 800 neue Kassensitze. Das reiche aber eben immer noch nicht, sagt die Bundeskammer der Psychotherapeuten und bezieht sich auf ein Gutachten, dass vom G-BA selbst in Auftrag gegeben wurde. Dort ist die Rede von 2400 Kassensitzen, die es bundesweit zusätzlich bräuchte.
G-BA sieht Problem in der Verteilung
Das G-BA argumentiert gegenüber dem WDR in einer Stellungnahme vom Donnerstag, dass das Problem nicht die Anzahl der Kassensitze sei, sondern deren Verteilung und bezieht sich dabei auf dasselbe Gutachten. Schon jetzt gebe es Regionen, die deutlich überversorgt seien. Wolle man die Versorgung verbessern, müssen man dort Sitze abbauen und umverteilen. Neue Kassensitzen würden das Problem nicht lösen. Auch Konzepte wie Gruppentherapien sollten stärker berücksichtigt werden, so könnten schneller mehr Patientinnen und Patienten behandelt werden, so der G-BA.
Auch beim Thema Wartezeiten gehen die Einschätzungen der Bundespsychotherapeutenkammer und des G-BAs weit auseinander. Sie seien nicht so lang, wie von der Bundespsychotherapeutenkammer angegeben, sagt der G-BA und stützt sich dabei auf Zahlen des Verbands der Ersatzkassen. Einem Interessenverband von sechs Krankenkassen. Dort wird die Wartezeit auf einen Therapieplatz mit maximal 15 Tagen angegeben.
Die Bundespsychotherapeutenkammer kritisiert die Zahlen wegen methodischer Schwächen - zum Beispiel wird in diesen Zahlen nur der Zeitraum zwischen Erstgespräch und Therapiesitzung gemessen. Nicht berücksichtigt wird, dass viele Patienten mehrere Therapeuten aufsuchen, bis es überhaupt zu einem Erstgespräch kommt. Auch besonders lange Wartezeiten von mehr als 12 Monaten wurden in der Untersuchung nicht berücksichtigt.
Gerade für junge Therapeuten ein Problem
Der Status Quo ist vor allem für junge Therapeutinnen und Therapeuten ein Problem. Eine angehende Psychotherapeutin im letzten Ausbildungsjahr aus dem Ruhrgebiet, die anonym bleiben möchte, nennt das System gegenüber dem WDR ausbeuterisch. Nach dem Psychologie-Master musste sie eine mindestens dreijährige Weiterbildung zur Psychotherapeutin beginnen, die sie etwa 20.000 Euro gekostet hat und bei der sie wie eine vollwertige Arbeitskraft selbstständig Therapien durchführt. Will sie eine Praxis mit Kassensitz eröffnen, muss sie diesen von einem Kollegen oder eine Kollegin bekommen, der seinen abgeben will. "Viele verlangen je nach Region etwa 20.000 bis 50.000 Euro für einen Kassensitz", sagt sie. Andere angehende Psychotherapeuten sprechen von Summen bis 100.000 Euro.
Petitionen sollen Politik animieren etwas zu ändern
Im Netz finden sich zahlreiche Petitionen, die das momentane System stark kritisieren und die Politik auffordern etwas zu ändern. Die regierende Ampel hatte im Koalitionsvertrag versprochen, Wartezeiten zu reformieren, passiert ist seit aber noch nicht soviel.