Judith Tillmann lebt ohne rechte Hüfte ihr "normales" Leben

Stand: 07.06.2022, 14:30 Uhr

Judith Tillmann ist ohne rechte Hüfte auf die Welt gekommen, ist von Geburt an gehbehindert. Die Arnsbergerin hat eine Arbeit, von der sie leben kann. Sie ist verheiratet, hat Freunde, Hobbys. Ich lebe ein normales Leben, sagt sie.

Von Katja Brinkhoff

Judith Tillmann ist die Telefonstimme des Caritas-Hauses in Arnsberg. Seit sieben Jahren arbeitet sie hier am Empfang. Erzieherin wäre ihr Traumberuf gewesen. Das war unmöglich. "Weil ich keine Hüfte auf der rechten Seite habe, ist mein rechtes Bein sechs Zentimeter kürzer", erzählt die 49-Jährige. Ihr ständiger Begleiter ist der Rollator.

Ein ganz normales Leben?

"Ich habe ein normales Leben, weil ich alles so mache wie andere Menschen", sagt Judith Tillmann. Diese kleine Frau, die mit großer Anstrengung laufen kann – sehr schnell laufen kann. "Reine Taktik", klärt sie uns auf. "Ich muss Schwung holen, um mein rechtes Bein zu bewegen. Deshalb bin ich schnell unterwegs."

Sie macht alles so, wie die "anderen" Menschen, die ohne Behinderung. Sie arbeitet, ist Ehefrau, trifft sich mit der Familie und Freunden. Ein ganz normales Leben?

Und dann erzählt Judith Tillmann wie es war, als sie nach der Schule eine Lehrstelle suchte: "Wenn man so eine Behinderung hat, dann packen sie einen ins Büro." Also ging sie ins Büro, machte die Ausbildung zur Bürokauffrau. Und schrieb nach der Lehre Bewerbungen – immer wieder.

Niemand wollte mich haben.

Irgendwann hat Judith Tillmann keine Bewerbungen mehr geschrieben. Sie blieb zu Hause – 14 Jahre lang. Von Anfang 20 bis Mitte 30. "Ich wusste nicht mehr, was ich mir zutrauen konnte", erzählt sie ganz ruhig.

Sie wollte nie in eine Werkstatt

Sie hat die 14 Jahre ausgehalten, mühsam ausgehalten. Das hat sie gelernt als Mensch mit einer Behinderung. Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind: "Als Kind wollte ich Fahrrad fahren, Schlittschuh laufen. Das ging nicht. Das war eben so."

Jemand vom Integrationsfachdienst kommt auf die Idee, Judith Tillmann nach 14 Jahren Arbeitslosigkeit in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen zu vermitteln. Endlich Arbeit. Aber: "Ich war da angekommen, wo ich nie hinwollte."

Judith Tillmann ist unterfordert, unglücklich. Auf der Rückfahrt nach ihrem ersten Arbeitstag in der Werkstatt ruft sie Ihre Mutter an: "Mama, da gehe ich nie wieder hin." Doch sie ist wieder dahingegangen. Fünf Tage in der Woche, acht Jahre lang.

Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Judith Tillmann

Dann kommt das Angebot der Caritas. Zuerst war es ein Versuch, jetzt ist es schon seit Jahren eine Festanstellung. Im Alter von 44 Jahren bekommt sie erstmals eine Gehaltsabrechnung mit einem Gehalt, von dem sie leben kann: "Ich konnte es nicht glauben. Ich war auf dem ersten Arbeitsmarkt angekommen. Seitdem lebe ich ein normales Leben", sagt die 49-Jährige.

Judith Tillmann im Fitnessstudio | Bildquelle: WDR/Katja Brinkhoff

Nächstes Jahr feiert sie mit ihrem Mann Silberhochzeit. Die Frau, die einmal in der Woche ins Fitnessstudio geht und für ihr Leben gern Torten backt. Und die lange überlegt hat, eine schwierige Operation auf sich zu nehmen, um ein wirklich "normales" Leben zu führen.

Eine Operation, bei der der Erfolg nicht garantiert war. Sie hat die Operation abgesagt. "Ich bleibe wie ich bin", hat Judith Tillmann entschieden. "Und wer mich so nicht mag, der soll es lassen."

Über dieses Thema berichten wir am 07.06.2022 im WDR Fernsehen in der Lokalzeit Südwestfalen um 19.30 Uhr.