"Die da oben machen eh, was sie wollen", lautet eine gängige Stammtischparole. Ansichten wie diese findet man aber längst nicht nur im Wirtshaus. Die Mehrheit der Deutschen empfindet eine Distanz zu ihren Politikerinnen und Politikern. Das zeigt eine neue, repräsentative Umfrage von infratest dimap im Auftrag des WDR. Anlass ist der dreitägige Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in der ostwestfälischen Stadt Espelkamp.
Bürger wünschen sich zu Politikern engeren Kontakt
Die Umfrage zeigt: Die allermeisten Menschen in Deutschland sind der Meinung, dass sich die Politiker "eher nicht" darum kümmern, "was einfache Leute denken". Außerdem sind die meisten Menschen "eher nicht" der Ansicht, dass sich ihre Repräsentanten "um einen engen Kontakt" zu ihnen bemühen.
Diese Ansichten finden sich mit nur leichten Schwankungen in allen abgefragten sozialen Gruppen - bei Männern wie Frauen, bei jüngeren und älteren Erwachsenen, bei Menschen aus Ost- und Westdeutschland, bei jenen mit niedrigem und hohen Schulabschluss sowie bei Geringverdienern und Besserverdienenden.
Skepsis gegenüber Poltikern über Parteigrenzen hinweg
Eine Distanz zu den Politikerinnen und Politikern empfinden vor allem Wählerinnen und Wähler, die der AfD anhängen oder dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW). Aber auch Anhänger von SPD, Grünen, Union und FDP sehen das mehrheitlich so.
Es sind zweifellos dramatische Ergebnisse für unser demokratisches System. Aber ist damit auch unsere Demokratie an sich in der Krise? Ganz so einfach sei das nicht, sagt Politikwissenschaftlerin Kristina Weissenbach. Sie ist Teil der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen und forscht im Projekt ActEU zum Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in Politik.
Probleme gebe es vor allem in der Wahrnehmung der Repräsentanten, nicht so sehr in der Wahrnehmung des Systems, sagt sie im Gespräch mit dem WDR.
Woran liegt es, dass sich viele Menschen von ihren Politikern nicht vertreten fühlen? Um das zu klären, unterscheidet Weissenbach in ihrer Forschung zwischen unterschiedlichen Repräsentationen.
Drei Formen der Repräsentation:
- Deskriptive Repräsentation: Sie zeigt sich in formalen, klar zu beschreibenden Eigenschaften wie etwa Geschlecht, Ethnizität und soziales Milieu. Zum Beispiel repräsentiert eine Bundesabgeordnete allein durch ihr Geschlecht Frauen im Parlament.
- Emotionale Repräsentation: Sie zeigt sich in symbolischen Handlungen, Gesten, Kleidung, der Art des Auftritts und Ähnlichem. Zum Beispiel kann ein händeschüttelnder Politiker in der Menschenmenge Nähe zu den Bürgern symbolisieren - oder unglaubwürdig wirken.
- Substanzielle Repräsentation: Hierbei stehen die politischen Inhalte im Mittelpunkt. Zum Beispiel kann ein alter, weißer, männlicher Politiker die Interessen von jungen, schwarzen Frauen vertreten. Entscheidend ist hier der Kern der Politik.
"Wenn sich Bürgerinnen und Bürger in diesen Formen der Repräsentation nicht oder nur unzureichend wiederfinden, dann verlieren sie an Vertrauen in ihre Politikerinnen und Politiker", sagt Weissenbach.
"Gesprächsstörung" zwischen Politikern und Bürgern
Und genau das passiere gerade. Im Prozess zwischen Bürgern und Politik gebe es eine "Gesprächsstörung", so nennt es Weissenbach. "Wir verzeichnen Vertrauensverluste." Und es gebe eine deutliche Lagerbildung. Bedeutet: Menschen bleiben mit ihren Ansichten unter ihresgleichen, sind wenig bereit, ihre Lager zu verlassen.
Ein Grund für die Vertrauensverluste seien die Unsicherheiten in krisenhaften Zeiten, so Weissenbach. Klima, Migration, Corona, Kriege, Inflation, Konjunkturflaute ... "Wir haben auf jeden Fall polarisierendere Zeiten also noch vor zehn Jahren."
Wie das Vertrauen wieder wachsen könnte
Um das verloren gegangene Vertrauen der Bürger in die Politik zurückzugewinnen, müssten die Repräsentanten die politischen Prozesse noch mehr als bisher erklären, meint Weissenbach. Wie ist es zu dieser oder jener Entscheidung gekommen? Warum dauert ein politischer Prozess so lange? Auf Fragen wie diese brauche es immer wieder leicht verständliche Antworten.
Das gelte auch für Medien, meint die Politologin. Es sollte weniger getalkt und mehr erklärt werden. Außerdem müsse man sich noch mehr auf die Menschen zubewegen, zum Beispiel über TikTok. Die Plattform wird von jungen Menschen stark genutzt. Etablierte Parteien sind dort aber unterrepräsentiert - im Gegensatz zur AfD.
Ihre Forschung, die auf intensiven Gesprächen mit Bürgern basiert, habe auch gezeigt: Wenn Politiker das Vertrauen der Bürger gewinnen wollen, dann sollten sie
- sachorientiert
- transparent
- ehrlich sein.
"Polarisierung auch am Küchentisch überwinden"
Aber nicht nur Politiker, Medien und Institutionen sind gefordert, um das Vertrauen von Bürgern in Politik zu stärken. Auch die Bürger selbst müssten sich offener zeigen, sagt Weissenbach und nennt Beispiele:
"Wir sollten die Polarisierung auch am Küchentisch überwinden. Wir sollten mit der anders denkenden Nachbarin mal einen Kaffee trinken gehen. Und wir sollten in Vereinen und Parteien miteinander ins Gespräch kommen."
Bundespräsident Steinmeier will in Espelkamp zuhören
Ins Gespräch kommen - das ist auch das Anliegen von Bundespräsident Steinmeier, der derzeit im ostwestfälischen Espelkamp zu Besuch ist. Seine eigenen Zustimmungswerte könnte er damit ebenfalls steigern. Wie die neue WDR-Umfrage zeigt, sind gerade mal 56 Prozent der Menschen in Deutschland mit seiner politischen Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden.
Steinmeier geht es in Espelkamp aber um weit mehr als um sich selbst. Es ist der Versuch, das Vertrauen der Bürger in die Politik an sich zurückzugewinnen und zu stärken. Vor allem gehe es ihm um dieses Signal, sagt Steinmeier im WDR-Interview:
Alles bloß Show? Keineswegs, meint Politologin Weissenbach. Zuzuhören und die Verbindung zu den Bürgern zu halten, gehöre zum Berufsbild von Politikern. Das sei ihre Pflicht.
Über dieses Thema berichtet am 13.03.2024 auch die "Aktuelle Stunde" im WDR Fernsehen.
Unsere Quellen:
- Umfrage von infratest dimap für den WDR von März 2024
- ARD-DeutschlandTrend von infratest dimap von Oktober 2023
- Politologin Dr. Kristina Weissenbach im Gespräch mit dem WDR
- WDR-Interview mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier