In Aschaffenburg wurden am Mittwoch zwei Menschen bei einem Messerangriff getötet, darunter ein Kleinkind. Der festgenommene Tatverdächtige ist ein Afghane, der in psychiatrischer Behandlung war und mittlerweile in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht wurde. Bereits der Täter von Magdeburg, der ein Auto in einen Weihnachtsmarkt gesteuert hatte, war ein Asylbewerber und psychisch auffällig.
Diese schrecklichen Taten werfen viele Fragen zu psychisch kranken Geflüchteten auf. Es geht dabei um Menschen, die aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland kommen, also viel durchgemacht haben. Natürlich wird dadurch nicht jeder zum Gewalttäter. Aber, es gibt Handlungsbedarf: Fragen und Antworten.
Wie groß ist der psychosoziale Unterstützungsbedarf?
"87 Prozent aller geflüchteten Menschen in Deutschland haben potenziell traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung erlebt", heißt es im Versorgungsbericht 2024 der "Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer" (BAFF).
Rund 30 Prozent davon seien von depressiven Erkrankungen oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung betroffen. "Inwiefern Gewalterlebnisse zu einer Traumafolgestörung führen, hängt stark von den Lebensbedingungen nach der Flucht ab", schreibt die BAFF.
Werden psychisch erkrankte Geflüchtete ausreichend begleitet?
"Nein, die Ressourcen sind sehr begrenzt", sagte der Psychologe und Migrationsexperte Ahmad Mansour am Dienstag im Tagesthemen-Interview. Man müsse in Deutschland monatelang auf Psychologentermine warten. Und einen Psychologen zu finden, der die entsprechende Fremdsprache beherrsche, sei noch schwieriger zu finden.
Zur gleichen Einschätzung kommt auch der BAFF-Versorgungsbericht 2024: "In Deutschland fehlt es an einem angemessenen Zugang zu einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung für geflüchtete Menschen." Grund dafür sei unter anderem der Umstand, dass Geflüchtete in den ersten drei Jahren nach ihrer Ankunft nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen Anspruch auf medizinische Behandlung haben.
Die medizinische Versorgung von Asylbewerberinnen und -bewerbern liegt in Deutschland im Zuständigkeitsbereich der Bundesländer.
Wie sieht es mit der Betreuung in NRW aus?
"Es gibt viel zu wenig Kapazitäten", sagte Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW am Donnerstag dem WDR. Seit 2015 sei das NRW-Netzwerk der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (PSZ) zwar ausgeweitet worden, doch es sei überlastet. "Das PSZ Siegen musste im vergangenen Jahr seinen Betrieb wegen Unterfinanzierung sogar einstellen."
Auch in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen reiche die psychologische Betreuung nicht aus. "Die Stellen können nicht ausreichend besetzt werden, weil ein Mangel an Fachkräften herrscht." Es sei auch eine höhere finanzielle Förderung notwendig, um ein nachhaltiges Arbeiten zu gewährleisten. "Normalerweise gibt es für Psychotherapeuten nur Jahresverträge."
Wie viele Geflüchtete mit psychischen Erkrankungen gibt es in NRW? Ist eine Zunahme zu verzeichnen?
Genaue Zahlen liegen nicht vor. Die Integrationsbeauftragte der Gemeinde Odenthal, Claudia Kruse, betreut seit über zehn Jahren Flüchtlinge in Odenthal. Ein Viertel von ihnen sei psychisch auffällig und behandlungsbedürftig, sagte sie dem WDR. Kruse betonte, dass es in NRW zu wenig Kapazitäten für die Betreuung dieser Betroffenen gebe.
Deutschlandweit wird von etwa 30 Prozent ausgegangen - das steht in einer Studie von Frank Neuner. Er ist Professor für klinische Psychologie an der Uni Bielefeld und hat stichprobenartig Geflüchtete in Erstaufnahme-Einrichtungen befragt. Zum Vergleich: In der gesamtdeutschen Bevölkerung hätten etwa 25 Prozent eine psychische Erkrankung, sagt Neuner. Dass dieser Anteil bei den Geflüchteten höher ist: Aufgrund ihrer oft traumatischen Erlebnisse sei das nicht überraschend. Umso wichtiger sei es, dass die psychischen Erkrankungen überhaupt erkannt würden. Auch mithilfe von standardmäßigen Befragungen in Erstaufnahme-Einrichtungen. Denn die gibt es noch nicht.
Welche und wie viele Angebote für Geflüchtete mit psychischen Erkrankungen gibt es in NRW?
NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) verwies gegenüber dem WDR darauf, dass in den Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge eine psychosoziale Erstberatung angeboten werde. Zusätzlich gebe es in den Einrichtungen Gewaltschutz- und Präventionsbeauftragte, die frühzeitig dafür sorgen sollen, dass bei Radikalisierungen oder psychischen Auffälligkeiten Betroffene psychische Beratungsangebote bekämen.
Doch Anspruch und Wirklichkeit driften offenbar auseinander. WDR-Reporter telefonierten mit mehreren Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge in NRW. Dort war mehrfach von psychisch auffälligen und gewalttätigen Flüchtlingen zu hören, die aber aus Kostengründen und teils über Jahre keine Hilfe bekämen. Nur ein Teil von ihnen bekomme Hilfe. "Der Rest fällt durchs Raster, muss irgendwie klarkommen", sagt Prof. Frank Neuner, der Psychologe an der Universität Bielefeld dem WDR.
Was müsste verbessert werden?
Der Flüchtlingsrat NRW verlangt für Geflüchtete den gleichen Zugang zu niedergelassenen Psychotherapeuten, wie er dem Rest der Bevölkerung zustehe. Durch den eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung für Geflüchtete in den ersten drei Jahren ihres Aufenthaltes müsse eine Psychotherapie vor Beginn durch das Sozialamt bewilligt werden.
Selbst wenn der Zugang zur Versorgung bestehe, sei immer noch das Sprachproblem zu lösen. Es müsse ein Anspruch auf sogenannte Sprachmittler bestehen, die medizinisch und sozial für diese Tätigkeit weitergebildet worden seien. "Es ist zum Beispiel wichtig, dass sich Sprachmittler innerhalb einer therapeutischen Situation neutral verhalten", so Birgit Naujoks vom NRW-Flüchtlingsrat.
Unsere Quellen:
- Psychosozialer Versorgungbericht 2024 des BAFF
- WDR-Gespräch mit Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW
- WDR-Interview mit Anja Kruse, Flüchtlingsbeauftragte der Gemeinde Odenthal
- WDR-Interview mit NRW-Flucht- und Integrationsministerin Josefine Paul
- WDR-Interview mit Professor Frank Neuner, Uni Bielefeld
Über dieses Thema berichtet der WDR am 23.01.2025 auch im Fernsehen, in der Aktuellen Stunde um 18.45 Uhr.