Was sich am Wochenende in Berlin ereignet hat, ist für viele Menschen eine schlimme Vorstellung: Nach einem schweren Unfall dauerte es 20 Minuten, bis ein Rettungswagen eintraf. Immerhin war nach neun Minuten ein Notarzt vor Ort. Trotzdem warf der Unfall, bei dem eine 15-Jährige starb, ein Schlaglicht auf die Lage der Rettungsdienste.
Denn wer in Notlagen die 112 wählt, hofft auf eine schnelle Hilfe. Dauert es dann aber quälend lange Minuten, bis die Retter kommen, kann es bei lebensbedrohlichen Situationen eng werden. Daher gilt: Jede Minute zählt. Doch offenbar geht im Alltag immer wieder Zeit verloren - nicht nur wie im Berliner Fall.
Aktuelle Daten liegen dem NRW-Gesundheitsministerium nicht vor. Doch schon ältere Zahlen zeigten, dass die angestrebten Fristen bei Rettungseinsätzen nicht immer eingehalten werden. Mehrere Kommunen wie Paderborn, Köln, Mönchengladbach, Euskirchen und der Oberbergische Kreis übertrafen Mitte 2019 zwar den angestrebten Anteil von 90 Prozent fristgemäßen Einsätzen. In der Regel sind das im städtischen Raum acht Minuten und auf dem Land zwölf Minuten zwischen Anruf und Eintreffen am Einsatzort. Im städtischen Bereich des Kreises Mettmann kam der Rettungswagen hingegen nur in etwas mehr als 42 Prozent aller Fälle innerhalb der acht Minuten. In Duisburg schaffte das der Rettungsdienst in nur 54 Prozent der Fälle.
"Trügerisches Versprechen"
Vertreter von Rettungsdiensten haben am Montag vor einem Kollaps gewarnt und sich zu einem "Bündnis pro Rettungsdienst" zusammengeschlossen. "Wir laufen Gefahr, dass das System der Notfallrettung in Deutschland zusammenbricht. Die Bevölkerung fühlt sich sicher, weil ihnen versprochen wird, dass in nur wenigen Minuten überall in Deutschland Hilfe naht. Dieses Versprechen ist schon jetzt absehbar ein trügerisches Versprechen", sagte Oliver Hölters, Mitinitiator des Bündnisses.
Probleme mit Bagatell-Fälle
Geht es darum, die Lage zu verbessern, werden immer wieder zwei Punkte genannt: das Verhindern von unnötigen Anrufen bei der 112 sowie bessere Arbeitsbedingungen.
Bei Ersterem kann jeder mithelfen. Denn die 112 ist eigentlich nur für Notrufe gedacht. Da geht es um akute und möglicherweise sogar lebensbedrohliche Notfälle. Konkret: Anzeichen für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall, Bewusstlosigkeit oder schwere Verletzungen.
In der Praxis kommt es aber immer wieder vor, dass auch bei nicht so schwerwiegenden Fällen ein Notarzt gerufen wird - zum Teil aus Bequemlichkeit. "Der Rettungsdienst rettet Leben und ist kein Taxi", sagt Hölters. So sei die Hemmschwelle gesunken, die 112 anzurufen.
Oliver Mertens von der Gewerkschaft der Polizei hat das Problem in diesem Sommer in einem Interview so zusammengefasst: "Wir erleben Menschen, die mit gepacktem Koffer auf der Straße stehen, auf den Rettungswagen warten und deren Angehörige dann mit dem eigenen Pkw hinterherfahren."
Ärztlicher Bereitschaftsdienst für weniger schwerwiegende Fälle
Manche wüssten auch nicht, dass es noch andere Rufnummern gebe wie die 116117. Sie soll in dringenden, aber weniger schwerwiegenden Fällen gewählt werden und führt zur ärztlichen Bereitschaftshotline - konkret zum Beispiel bei Erkältungskrankheiten oder grippalen Infekten mit Fieber und Schmerzen.
Das neue Bündnis fordert deshalb eine engere Verzahnung zwischen der 112 und der 116117. Das Ziel: Wenn sich ein Notruf als nicht lebensbedrohliche Situation herausstellt, soll er an die 116117 weitergegeben werden. Der Rettungsdienst würde dadurch entlastet und könnte sich auf die wirklichen Notfälle konzentrieren.
Auch auf die Mitarbeitenden hätte das einen positiven Effekt, sagt Marco König vom Deutschen Berufsverband Rettungsdienst. Im WDR-Gespräch berichtete er am Montag von großem Frust. "Die Kollegen sagen: Ich habe im Rettungsdienst angefangen, um Notfallrettung zu machen, und mache jetzt mehr oder weniger sozialen Dienst und fahre Krankentransporte, weil das überwiegend niederschwellige Notfälle sind." Im niedersächsischen Oldenburg gebe es ein Pilotprojekt mit sogenannten Gemeinde-Notfallsanitätern vor Ort, die erst einmal schauen, ob ein kleineres oder größeres Problem vorliegt. Laut König könnten dadurch in NRW über 250.000 Transporte beim Rettungsdienst eingespart werden.
Weniger Einsatzfahrzeuge wegen Personalnot
Ein anderer Vorschlag zielt auf die Attraktivität der Berufe im Rettungsdienst ab. Denn immer wieder sorgen die zunehmende Überlastung und der Frust dazu, dass der Job verlassen wird. Und die Personalnot führt dann dazu, dass Einsatzfahrzeuge nicht rausfahren können. Der Berufsverband Rettungsdienst spricht von einer "nie dagewesenen Berufsflucht".
Laut dem "Bündnis pro Rettungsdienst" hat die Zahl der unbesetzten Einsatzfahrzeuge in den letzten Jahren "stark zugenommen". Die Forderung deshalb: "Eine Ausbildungsinitiative, moderne Arbeitszeitmodelle sowie angemessene Bezahlung müssen erreicht werden, um die Attraktivität einer Tätigkeit im Rettungsdienst zu steigern und die Verweildauer der Beschäftigten im Beruf zu verlängern."