Wer nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren ist, der war vielleicht selbst auf "Verschickung". Über Jahrzehnte sind Kinder in Kuren und spezielle Kliniken gebracht worden, mal an der See, mal in den Bergen. Doch die wochenlange Kur wurde für viele zur Tortur.
Aus den "Kinderkuren" sind in den letzten Jahren Geschichten bekannt geworden, über die lange Zeit geschwiegen wurde. Betroffene berichten von Misshandlungen, zweifelhaften Medikamentenbehandlungen und Demütigungen. Sie wurden zum Essen gezwungen, ihnen wurde das Sprechen verboten oder gar der Toilettenbesuch. Viele kehrten erschüttert und verängstigt zurück nach Hause.
Fürs Leben traumatisiert
An solche Ereignisse erinnert sich auch Heike Fischer-Nagel. Als sie vier Jahre alt war, wurde sie von ihrer Heimatstadt Herford in den Westerwald verschickt. Sechs Wochen war sie alleine unter anderen Kindern in der Kur, 1971 war das. Sie habe schlimme Erfahrungen gemacht, sei traumatisiert - bis heute prägt das Erlebte sie.
Was früher im Anekdotischen blieb, wird heute Stück für Stück kollektiv aufgearbeitet. Es gibt Betroffenen-Initiativen, wie etwa den Verein "Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW". Deren Vertreter sitzen nun mit am Runden Tisch.
Mit von der Partie sind auch Vertreter der Landesregierung, also aus dem Gesundheits- und Familienministerium sowie die Nachfolger der Organisationen, die damals die Einrichtungen und Kliniken leiteten, zum Beispiel Caritas und die AWO. Auch der Landschaftsverband Rheinland und die Deutsche Rentenversicherung sitzen mit am Runden Tisch.
Betroffene wollen kein Geld, dafür Aufarbeitung
Die Idee ist, dass nun alle zusammenkommen und vier Mal im Jahr auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch kommen, so wünschen es sich Betroffene, sagt Detlef Lichtrauter vom Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW. Sie möchten Aufarbeitung – trägerfinanziert, unabhängig und wissenschaftlich.
Es solle geklärt werden, wer dafür verantwortlich war und warum die kollektive Kontrolle über Jahrzehnte versagt hat. Die Betroffenen wünschen sich keine Entschädigungszahlungen, so wie aus anderen Fällen institutionalisierten Missbrauchs bekannt, sondern einen Therapiefonds, mit dem psychosoziale Angebote für Betroffene eingerichtet werden sollen.
Ziel des Runden Tisches sei auch zu schauen, welche Projekte weiter vom Land gebraucht werden, lässt das Gesundheitsministerium mitteilen.
"Ein Meilenstein"
Das hat bereits eine finanzielle Sicherung eines Bürgerforschungsprojekts bis 2026 zugesagt. Auch eine erste Studie ist bereits erschienen. Das Land könne sich auch eine Kooperation mit dem Bund vorstellen, doch vom Bundesfamilienministerium ist bislang nicht bekannt, inwiefern eine Beteiligung an der Aufarbeitung geplant ist.
Der Landtagsabgeordnete Dennis Maelzer hatte das Thema Kinderverschickung vor einigen Jahren in den Landtag eingebracht. Dass heute der Runde Tisch startet, sei aus seiner Sicht ein "Meilenstein der Aufarbeitung".
Raum für Aufarbeitung
Im Landtag waren die Betroffenen am Dienstag froh darüber, dass der Runde Tisch endlich startet und sich die Politik in NRW geschlossen hinter die Aufarbeitung stellt.
Persönlich vor Ort war auch NRWs Gesundheits- und Sozialminister Karl Josef Laumann von der CDU. Er sagte gegenüber dem WDR, der "Staat muss in einer solchen Fagen, diesen Erlebnissen - diesen Traumatisierung, die teilweise passiert sind - einen Raum geben". Laumann betonte aber auch, dass genau geprüft werden müsse, in wessen Verantwortung welche Dinge passiert seien.
Ausstellung im Landtag
Im Landtag sind zum Auftakt des Runden Tischs die Bilder von Heike Fischer-Nagel in der Bürgerhalle zu sehen. Sie ist Künstlerin und hat schon immer eigene biografische Elemente in ihren Bildern verarbeitet, früher aber eher abstrakt. Seit einigen Jahren malt sie expliziter: Sie zeigt, was viele Verschickungskinder erlebt haben, fängt ihre Gefühle ein.
Mit ihren Bildern möchte sie bruchhafte Erinnerungsstücke ans Licht holen. "Mir geht es darum, dass Betroffene sich identifizieren können und dass sie sich wiederfinden und andocken können. Aber in jedem Bild ist immer auch ein kleines Stückchen Hoffnung, den Kindern ihre Würde zurückzugeben", sagt Heike Fischer-Nagel.
Über das Thema berichtet der WDR am 21.02.23 u.a. im Morgenecho und im Westblick auf WDR 5