Es ist halb elf am Samstagmorgen und das Brötchenbuffet steht. Der Kaffeeautomat hat den Geist aufgegeben, aber das scheint kaum jemanden zu interessieren. Denn die meisten wirken schon jetzt elektrisiert.
Bevor bald keine Zeit mehr zum Essen ist, nutzen einige die Gelegenheit für einen schnellen Happen. Es gibt Brötchen mit Käse, Schinken und Putenbrust. Vor wichtigen Meetings, erzählt Anabella Peters, habe sie früher immer Lachs organisiert, weil Lachs eine beruhigende Wirkung haben soll – das wäre ja auch passend heute. Ökonomin Peters, dunkel gekleidet, kurze schwarze Locken, wird als stellvertretende Landesvorsitzende kandidieren.
Früher FDP, heute BSW
Neben ihr steht Nils Niggemann, in einem zufälligerweise lachsfarbenen Anzug, den er sich extra für diesen Tag gekauft hat. Ein neuer Anzug für eine neue Partei. Der Mediziner, aktuell im Praktischen Jahr seiner Ausbildung, war vorher bei der FDP in Essen aktiv. Doch die Corona-Pandemie habe ihn zum Nachdenken gebracht: "Da habe ich die Welt nicht mehr verstanden", sagt er.
Ihm gehe es um Freiheit, und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sei die neue Freiheitspartei. Jetzt ist er dort Mitglied und damit eines von rund 115, die aus NRW kommen. 84 von ihnen sind heute ins Jahrhunderthaus nach Bochum gekommen. Sie wirken auf den ersten Blick verschieden, einige sind im kurzärmligen karierten Hemd gekommen, andere tragen Anzug.
Amid Rabieh gehört zur zweiten Gruppe. Der Jurist aus Bochum, ehemals im NRW-Landesvorstand der Linken, wird am Mittag gemeinsam mit Jan Ristau zum Landesvorsitzenden des BSW gewählt werden. Man habe, sagt er, den Anspruch, sich breit aufzustellen. Ihm sei es wichtig, dass sich die Gesellschaft in der Partei spiegelt.
Währenddessen trifft Thomas Geisel ein, bis 2020 war er Oberbürgermeister von Düsseldorf und damals noch bei der SPD. Mittlerweile sitzt er für das Bündnis Sahra Wagenknecht im Europaparlament. Er bützt sich durch, schüttelt Hände, begrüßt die anderen Mitglieder. Es liegt eine Aufbruchstimmung in der Luft, manche hier wirken aufgekratzt, jemand stößt eine Wasserflasche vom Tisch. Amid Rabieh hebt eine Scherbe auf: "Scherben bringen Glück", sagt er.
Im Galopp durch die Tagesordnung
Pünktlich um elf Uhr beginnt der Parteitag. Christian Leye, auch er war früher bei der Linken, ist heute Generalsekretär beim BSW. Er eröffnet den Parteitag mit einer Rede: Es fühle sich ein bisschen wie nach Hause kommen an, sagt er, und spricht vom Wahlerfolg des vergangenen Wochenendes bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen.
Etwas Parteitagspolemik bringt er auch unter, mit einem Wink in Richtung Union: Vielleicht sei es eine gute Idee, meint Leye, "wenn der eine oder andere Unionsvertreter mal in die Tüte atmet", bevor er mit der Presse spreche. Dann kündigt er "Fußballlegende" Oliver Ruhnert an, ebenfalls ein ehemaliger Linker, der zum BSW gewechselt ist. Jemanden, der einen Underdog nach oben bringt, könne man gut gebrauchen, so Leye, und spielt auf Ruhnerts Job beim Bundesligisten Union Berlin an.
Die ersten Formalia werden alle einstimmig beschlossen und schon um halb zwölf wird im Saal heftig applaudiert: Der Landesverband NRW ist offiziell gegründet. Dann geht es darum, wer in den Vorstand kommt. Für den Vorsitz kandidieren Amid Rabieh und Jan Ristau, Gegenkandidaten gibt es nicht. Rabieh zeichnet in seiner Antrittsrede ein düsteres Bild der Gesellschaft, spricht von Armut und Menschen, die an den Tafeln Schlange stehen. Er fragt, ob es bei der aktuellen politischen Bilanz verwunderlich sei, dass sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden würden.
Danach stellt sich der 47-jährige Polit-Neuling Jan Ristau vor, ein Anwalt aus Düsseldorf. Sein Credo: Menschen müssten ihre Meinung frei äußern können, ohne Einschüchterung zu erleben. Der Freiheitsgedanke bahnt sich immer wieder seinen Weg durch die Gespräche an diesem Parteitag. Und auch die Folgen der Corona-Pandemie scheinen die Mitglieder sehr zu bewegen.
Hohe Zustimmung für Landesvorsitzende
Der Mediziner Nils Niggemann sammelt derweil die Stimmzettel in einer kleinen Plastikbox ein. Nach der Auszählung wird das Ergebnis verkündet und nach anderthalb Stunden Parteitagsprogramm ist es offiziell: Rabieh und Ristau bilden eine Doppelspitze, sie wurden mit 95,2 und 94 Prozent der Stimmen gewählt.
Nun wird die Arbeit weitergehen, sagen sie bei der Pressekonferenz unmittelbar nach der Wahl. Ihre Prognose: Die rund 115 Mitglieder werden sich bis Jahresende verdoppelt haben. Man strebe ein organisches Wachstum an, sagt Rabieh, dabei achte die Partei genau darauf, wen sie als Mitglied zulässt – vor allem Leute, die nicht mit dem Parteiprogramm konform gingen, sollten rausgehalten werden. Derzeit hat das BSW in NRW neben den Mitgliedern noch rund 5000 Unterstützer und Spender.
Pläne für Nordrhein-Westfalen
Erst mal haben sie das Bundesprogramm des BSW übernommen. Mit der Zeit, versichert der neu gewählte Vorstand, werde ein Landesprogramm entworfen. Schwerpunkte: Beispielsweise eine Industriestiftung, um Arbeitsplätze in der Stahlbranche zu erhalten. Oder auch die Entschuldung der Kommunen voranbringen. Wo er das BSW politisch verorte, wird Rabieh gefragt, ob links oder rechts? Die Koordinaten seien durcheinander gekommen, antwortet er.
Für ihn zählten die Werte Vernunft, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Auch wenn es in seiner Rede keine Rolle spielte, aber Migration wollten sie begrenzen, während sie zum Recht auf Asyl stünden. Mit der AfD werde man nicht koalieren, aber Anträgen, die sinnvoll erscheinen, werde man zustimmen.
Sahra Wagenknecht ist nicht zur Gründung des Landesverbands gekommen, obwohl ihr Bundestagswahlkreis bislang in Düsseldorf lag. Ihr Konterfei, leicht stilisiert, findet sich auf Buttons und Stickern wieder. Und der Parteiname auf T-Shirts, die man erwerben kann. Sie hängen auf einer Kleiderstange, in Rot, Gelb, Grün, Blau, Schwarz, Lila. Die Farben des gesamten Parteienspektrums - und vielleicht ein Zeichen dafür, wen diese Partei mit ihrem Programm ansprechen möchte.