Mitte 2019 suchte das Landeskriminalamt NRW (LKA) einen Anbieter für eine neue Software. Sie sollte in der Lage sein, Informationen aus verschiedenen Datenbanken miteinander zu verknüpfen, um damit Fälle von Terrorismus und schwerer Kriminalität zu verhindern.
Ein solches Programm kostet viel Geld. Und so lautete der Auftragswert laut Ausschreibung 14 Millionen Euro. Doch Recherchen des WDR-Magazins Westpol zeigen, dass mittlerweile die Kosten explodiert sind. Auch der ursprüngliche Zeitplan wurde weit verfehlt.
Palantir-Software "was ganz Banales"?
Die Ausschreibung gewonnen hat das höchst umstrittene Unternehmen Palantir. Die Firma ist eng verflochten mit US-Geheimdiensten. Ein Teil des Gründungskapitals kam von der CIA. Mit aufgebaut wurde die Firma von Milliardär und Trump-Unterstützer Peter Thiel.
Der große Vorteil der Software aus Ermittlersicht: Es muss nicht jede verfügbare Datenbank händisch durchsucht werden. Mit ein paar Klicks übernimmt das das Programm. "Das ist gar keine Zauberwaffe, sondern was ganz Banales", beschreibt das NRW-Innenminister Herbert Reul.
Polizei könnte sogar Social Media auswerten
Aber aus Datenschutzsicht ist die Software problematisch: Palantir kann nicht nur auf die Datenbanken der Polizei zugreifen, sondern auch Informationen einbeziehen etwa aus dem Waffenregister, dem Einwohnermeldeamt oder der Führerscheinstelle. Ermittler haben sogar die Möglichkeit, im Einzelfall Daten aus Social-Media-Kanälen wie Facebook und Internetdaten hinzuzufügen.
Mehrere Polizeibehörden wie Europol oder die New Yorker Polizei stellten nach anfänglicher Begeisterung die Zusammenarbeit mit Palantir wieder ein. Grund sollen unter anderem stark steigende Kosten gewesen sein.
Damit muss sich auch Nordrhein-Westfalen befassen. Auf Nachfrage räumt das Innenministerium ein, dass die Behörden weit mehr zahlten als den in der Ausschreibung genannten Auftragswert von 14 Millionen Euro. Insgesamt 22 Millionen Euro netto sollen demnach alleine die Zahlungen an Palantir betragen – Lizenzkosten für fünf Jahre.
Statt 14 Millionen Euro jetzt 39 Millionen
Auf Anfrage teilt das Ministerium mit, im Ausschreibungsverfahren habe sich gezeigt, dass die geforderten Leistungen nicht für den geschätzten Wert erbracht werden konnten. Die Angebote lagen demnach alle "über 20 Millionen Euro – zum Teil deutlich". Nach Vertragsabschluss sei der Wert nicht mehr verändert worden.
Doch die Kosten stiegen weiter. Alleine für zusätzliche Hardware sollen rund 2,4 Millionen Euro aufgewendet worden sein, so das Innenministerium auf Anfrage. In Summe seien 13 Millionen Euro "für ergänzende Tätigkeiten anderer Unternehmen ausgegeben" worden.
In beiden Fällen möchte das Ministerium "aufgrund vertraglicher Verpflichtungen" keine konkreten Empfänger oder Leistungen mitteilen. Mittlerweile kostet das Gesamtprojekt das Land NRW insgesamt 39 Millionen Euro.
7 Millionen Euro als angebliche Corona-Mehrkosten
Im NRW-Landtag kennen die Abgeordneten diese Zahl bisher nicht. Hartmut Ganzke (SPD) erinnert sich, dass er im März 2021 noch überrascht war. Das Innenministerium hatte versucht, sieben Millionen Euro für die Software als Corona-Mehrkosten bewilligt zu bekommen: "In der Rückschau kann man vielleicht sagen, dass der Minister versucht hat zu tricksen, dass er uns die notwendigen Informationen nicht an die Hand gegeben hat."
Innenminister Reul spricht im Interview mit Westpol von einem Fehler, verneint eine Täuschungsabsicht. Was die Anschaffung der Palantir-Software angeht, bestreitet Reul, dass es Kostensteigerungen gegeben habe:
"Würde mir Transparenz des Innenministers wünschen"
Marc Lürbke (FDP) war zum Zeitpunkt der Entscheidung für Palantir noch Teil der Regierungskoalition im Landtag. Doch auch er fühlt sich bis heute nicht ausreichend informiert, hat nach eigenem Bekunden keine Kenntnisse darüber, wie die Verträge mit dem US-Unternehmen ausgestaltet wurden oder welche Kosten dem Steuerzahler in Zukunft noch entstehen: "Ich würde mir wünschen, der Innenminister würde hier für Transparenz sorgen."
Einen Teil der Millionen erhielt Palantir aus NRW sogar, ohne dass die Software überhaupt schon zum regulären Einsatz kam. Mehr als anderthalb Jahre lief das System nur in einem Testbetrieb. Die rechtliche Grundlage, um das System zu nutzen, war so lange ungeklärt.
NRW zahlte schon im Testbetrieb - mehr als anderthalb Jahre lang
Innenminister Reul war zunächst der Ansicht, dass es kein neues Gesetz brauchte. Noch im November 2020 wiederholte er vor dem Innenausschuss, die Landesregierung habe "alles Mögliche datenschutzrechtlich überprüft, weil sie wohl kaum ein rechtlich nicht sicheres Projekt starte". Dies gelte sowohl für die Vergabe als auch für den Datenschutz.
Das Büro der NRW-Datenschutzbeauftragten drängte allerdings aus ein neue rechtliche Regelung, Reul änderte seine Haltung schließlich. Im April 2022 beschloss der Landtag ein neues Polizeigesetz, das den Einsatz der Datenbanksoftware ausdrücklich erlaubt.
Statt wie in der Ausschreibung gefordert ab dem dritten Quartal 2020 die Software bei Ermittlungen einzusetzen, konnte Palantir somit erst Anfang Mai 2022 für die reguläre Benutzung freigegeben werden. Die Weigerung des Innenministeriums, die Datenschutzbehörde früher einzubinden, könnte den Steuerzahler damit Millionen gekostet haben. Denn die Zahlungen von jährlich bis zu 6,8 Millionen Euro liefen bereits.
"Wie wird der Grundrechtsschutz in der Praxis gewährleistet?"
"Man hätte uns früher einbeziehen sollen“ sagt heute dazu Bettina Gayk, die Landesbeauftragte für Datenschutz in NRW. Zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe an Palantir war sie noch nicht im Amt.
Mit dem neuen Polizeigesetz sieht sie gewährleistet, dass die Software nicht bei Bagatelldelikten eingesetzt wird: "Die Frage ist aber: Wie wird das in der Praxis gewährleistet?" Dafür soll bald ein Kontrolltermin im LKA organisiert werden, "weil das einfach so ein gravierendes Verfahren ist, dass es wichtig, dass das in engen Bahnen bleibt".
Reul spricht von "ersten Erfolgen" - Software täglich im Einsatz
Reul beschreibt den Einsatz der Software als vollen Erfolg. Es seien schon mehrfach Straftaten damit verhindert worden, etwa Geldautomatensprengungen und auch sexualisierte Gewalt an Kindern: "Es hat erste Erfolge und damit ist es gut." Die Polizei nutzt laut Ministerium das System inzwischen täglich.
Doch es ist heftig umstritten, ob die Regelungen in NRW die Grundrechte tatsächlich ausreichend schützen. "Es muss viel klarer werden, was ist die Schwelle, welcher Verdacht muss eigentlich schon bestehen, ab der die Software eingesetzt werden kann", kritisiert Jürgen Bering, Bürgerrechtler bei der "Gesellschaft für Freiheitsrechte".
Verfassungsbeschwerde gegen NRW-Gesetz ist vorbereitet
Bering ist überzeugt: Die Software ist in der Lage, Data-Mining zu betreiben, also selbst neue Informationen aus den abgefragten Daten zu erzeugen. Das ist aus seiner Sicht nur bei schwersten Straftaten erlaubt, etwa Terrorismus oder Kindesmissbrauch. Das NRW-Gesetz lässt den Einsatz der Software dagegen auch bei Straftaten wie Betrug, Beamtenbestechung oder Volksverhetzung zu.
Das Innenministerium bestreitet, dass die Polizei mit der Software Data-Mining betreibe. Die "Gesellschaft für Freiheitsrechte" will trotzdem Anfang Oktober Verfassungsbeschwerde einreichen, sie stehe kurz vor der Fertigstellung. Am Ende dürfte also das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob die Polizei in NRW die Palantir-Software weiter wie bisher nutzen darf.