NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat drei Wochen nach dem islamistischen Anschlag in Solingen den Landtag unterrichtet. Er präsentierte am Mittwoch ein Maßnahmen-Paket zu den Punkten Migration, Sicherheit und Prävention. Wüst sprach von einer doppelten Zäsur in Deutschland durch den Anschlag in Solingen und die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Erstmals sei in Thüringen mit der AfD eine rechtsextreme Partei stärkste Fraktion geworden.
Die Migration sei eine globale Herausforderung, Deutschland stehe "wegen seiner Lage und seiner Stärke" im Fokus, sagte Wüst. Die irreguläre Migration stelle ein großes Problem dar, die Belastungsgrenze der Gesellschaft sei an vielen Stellen erreicht. Darum habe sich die schwarz-grüne Landesregierung auf ein Maßnahmen-Paket verständigt. Im Plenum nannte Wüst nur einige Punkte der langen Liste, die in einer Pressemitteilung der Staatskanzlei eingehender erläutert wurden.
Bereich Sicherheit
Wüst bezeichnete den islamistischen Terror als "größte Herausforderung für unsere Zeit". Seit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA am 11. September 2001 habe sich dieser Terror gewandelt. Nun würden sich Einzeltäter oftmals über das Internet radikalisieren. Darum habe die Regierung aus CDU und Grünen sich auf Maßnahmen zur Stärkung der inneren Sicherheit verständigt. Dazu gehören unter anderem:
- Ausweitung der Befugnisse des Landes-Verfassungsschutzes: Ermöglicht werden soll die Nutzung von Quellen-Telekommunikations-Überwachung. Das heißt, auch verschlüsselte Messengerdienste dürfen überwacht werden. Voraussetzung ist eine richterliche Anordnung. Die Altersgrenze für die Speicherung von Daten soll zudem von 16 auf 14 Jahre gesenkt werden, um den Schutz vor radikalisierten Jugendlichen zu erhöhen.
- Einsatz von Gesichtserkennungs-Software.
- Ein stärkerer Datenaustausch zwischen den Behörden soll zu einer zentralen Übersicht von abzuschiebenden Personen führen.
- Verstärkter Einsatz von KI: So sollen "virtuelle Ermittler" in sozialen Medien quasi digital auf Streife gehen und Übersetzungen von seltenen Sprachen und Dialekten möglich werden.
- Islamistische Prediger und Influencer sollen stärker in den Blick genommen werden.
- Einrichtung einer "Koordinierungsstelle Radikalisierungsforschung". Sie soll Aufschluss geben über veränderte Radikalisierungsprozesse.
- Initiativen im Bund und mit weiteren Bundesländern: Es soll unter anderem eine Gesetzesänderung im Waffenrecht geben (Bundesgesetz), die "leichter verfügbare Tatmittel wie etwa Messer des täglichen Gebrauchs oder Fahrzeuge" erfasst. Das Strafgesetzbuch soll ergänzt werden, um die Terrorismusfinanzierung unter Strafe zu stellen. Auch ein anlassbezogener Zugriff auf Verkehrsdaten soll zur Terrorismusbekämpfung ermöglicht werden.
Bereich Migration
Auf Bund-Länder-Ebene will die NRW-Landesregierung unter anderem auf diese Änderungen hinarbeiten:
- Es soll eine verbesserte Rückführung im Rahmen der EU-Gesetzgebung ("Dublin-Verfahren") geben.
- Prüfung einer bundesweiten "Storno-Plattform für Flugbuchungen". Ziel soll sein, dass die stornierten Plätze für weitere Überstellungen genutzt werden.
- Die NRW-Landesregierung begrüßt ausdrücklich, dass "humanitäre Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen" durchgeführt werden.
- Für Asylsuchende aus Herkunftsstaaten mit einer Anerkennungsquote unter fünf Prozent soll ein beschleunigtes Asylverfahren gelten.
- Weitere Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern sollen geschlossen werden.
- Schutzsuchende in Deutschland, die "ohne Notwendigkeit" in ihr Heimatland reisen, sollen den Schutzstatus verlieren und mit einer Wiedereinreisesperre belegt werden.
Und diese Maßnahmen will die NRW-Landesregierung aus CDU und Grünen unter anderem in Eigenregie umsetzen:
- Die Verwaltungsgerichte sollen zur schnelleren Bearbeitung von Asylverfahren drei weitere sogenannte Asylkammern bekommen. Seit dem Frühjahr 2024 werden in NRW die Zuständigkeiten für Asylverfahren gebündelt. So soll schneller Klarheit geschaffen werden - für die Betroffenen und die Behörden.
- Asylsuchende aus sicheren Herkunftsländern sollen unbefristet eine Wohnsitzauflage erhalten. Das heißt, sie können ihren Wohnort nicht frei wählen, sondern sollen bis zum Abschluss ihres Verfahrens in einer Aufnahmeeinrichtung bleiben. Das soll die Kommunen entlasten.
- Planung einer weiteren Abschiebehaftanstalt, da die Landesregierung von einem künftig steigenden Bedarf ausgeht.
Bereich Prävention
Im Landtag verwies Hendrik Wüst auf das Problem, dass sich bereits Kinder und Jugendliche radikalisierten. Er kündigte einen "Kampf um die Herzen und Köpfe unserer Kinder" an und betonte "das sind alles unsere Kinder". Diese Maßnahmen sollen dabei helfen:
- Ausbau bestehender Präventionsangebote, unter anderem um eine Live-Chatfunktion.
- Aufklärung und Information über Islamismus.
- Stärkung der Prävention gegen Radikalisierungen in Schulen, Flüchtlingsunterkünften und Justizvollzugsanstalten.
- Extremismus und Islamismus im Internet sollen bekämpft werden. Dazu gehört eine Ausweitung des Einsatzes von KI-Instrumenten, um Hass-Postings in den sozialen Medien zu identifizieren und der Strafverfolgung zuzuführen. Und die Anbieter von illegalen, gefährlichen Inhalten sollen stärker in die Pflicht genommen werden. Konkret wird eine Selbstverpflichtung der sozialen Netzwerke in Deutschland angestrebt.
Opposition sieht Missachtung des Parlaments
Es war ein umfangreiches Paket, das Hendrik Wüst am Mittwochmorgen vorstellte. Unmittelbar nach ihm trat der SPD-Fraktionsvorsitzende Jochen Ott als Oppositionsführer ans Rednerpult. Er wolle die Einzelmaßnahmen prüfen, sagte Ott und beklagte: Er hätte sich als Abgeordneter gerne vor der Debatte mit dem Paket auseinandergesetzt. "Das ist eine schwere Missachtung des Parlaments."
Auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Henning Höne kritisierte, dass bereits kurz nach Eröffnung des Tagesordnungspunkts die ersten ausführlichen Agenturmeldungen dazu vorlagen und eine Pressemitteilung der Staatskanzlei verschickt wurde. Viele seien also vorab informiert gewesen - jedoch nicht die Abgeordneten. Höne ging als vierter Redner der Debatte auch inhaltlich auf das Maßnahmen-Paket ein: Viele Punkte seien bereits länger geplant, andere hingegen längst überfällig. In Summe sieht Höne eine 180-Grad-Wende in der Migrationspolitik der Landesregierung.
Blick auf den Haushalt der Landesregierung
Sowohl Jochen Ott als auch Henning Höne stellten die Maßnahmen in Bezug zum Haushalt, dessen Beratung für die Unterrichtung der Landesregierung verschoben wurde. So kritisierte Ott, dass der Haushaltsentwurf eine Kürzung von über 10 Millionen Euro bei der Integration vorsehe, zudem sei der Rotstift bei den Präventionsprojekten "Kurve kriegen" und "Wegweiser" angesetzt worden. "Für eine Promille-Einsparung im Haushalt riskiert diese Landesregierung eine höhere Jugendkriminalität." Den Vorwurf der Kürzung bei den beiden Projekten wies Innenminister Herbert Reul für die Landesregierung zurück.
Der FDP-Fraktionsvorsitzende begrüßte ausdrücklich die Einrichtung einer zweiten Abschiebeanstalt in NRW. Höne bemängelte aber, dass dafür im Haushalt keine Mittel bereitgestellt würden.
In einer Pressemitteilung ergänzte Jochen Ott später noch, das Paket der Landesregierung sei vor allem "der untaugliche Versuch, durch eine möglichst große Ansammlung von Spiegelstrichen den Eindruck von Handlungsfähigkeit zu erwecken". Tatsächlich handele es sich jedoch um "halbgare Gedankenspiele, Arbeitsaufträge für andere und die Ankündigung von selbstverständlichem Regierungshandeln, das offenbar bisher gar nicht selbstverständlich war".
Grüne tragen Maßnahmen mit
Jochen Ott (SPD) äußerte in der Debatte auch "Zweifel, ob der Koalitionspartner diesen Weg mitgeht". Diese Zweifel räumte NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) unmissverständlich aus: Die Landesregierung stehe geeint und sei bereit, "mutige und wichtige Schritte zu gehen". Sie gestand aber auch ein, dass die "schwierigen Antworten", die man gefunden habe, "uns etwas zumuten", ohne weitere Details zu nennen.
In der Debatte hatte zuvor Ministerpräsident Wüst der grünen Flüchtlingsministerin, die seit dem Anschlag in Solingen massiv in der Kritik steht, demonstrativ den Rücken gestärkt und Josefine Paul für die "schnelle Transparenz" gedankt.
Wagner (AfD): "Herr Wüst, verfügen Sie über mich."
Der AfD-Abgeordnete Markus Wagner sieht im Anschlag in Solingen ein "massives Versagen des deutschen Staates" und sprach von einer "vollkommen verrückten Weltsicht der Grünen". Er forderte vom Ministerpräsidenten, Flüchtlingsministerin Josefine Paul zu entlassen und bot ihm an: "Herr Wüst, verfügen Sie über mich", er sei bereit, "Abschiebeminister" zu werden.