Das statistische Landesamt, IT NRW, hat kürzlich neue Zahlen zu den von Jugendämtern eingeleiteten Verfahren zur "Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls in Nordrhein-Westfalen" vorgelegt. Danach waren sie 2022 mit 56.914 auf einem Höchststand, seitdem diese Daten 2012 zum ersten Mal erhoben wurden. Das klingt zunächst dramatisch.
Betrachtet man aber die Zahlen aller Jahre und aller Jugendämter, fällt auf, dass es enorme Schwankungen gibt. "Es kommt häufig vor, dass sich Fallzahlen in einem Jugendamt von einem Jahr aufs andere verdoppeln, manchmal wieder halbieren oder auch verdreifachen", sagt Thomas Mühlmann von der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund.
Statistik nur bedingt geeignet für Einschätzung der Lage
Diese Schwankungen könnten zustande gekommen sein, weil die Zahlen in den landesweit 186 Jugendämtern unterschiedlich erfasst würden. Während das eine Amt vielleicht drei Überprüfungen beim selben Kind in einem Verfahren zusammenfasse, zähle das andere Amt möglicherweise alle drei Überprüfungen einzeln. Über die Jahre haben sich zudem Abläufe in den einzelnen Behörden verändert.
Beispiel Mönchengladbach: Hier gab es vor acht Jahren ganze 226 Verfahren, 2019 schnellte die Zahl plötzlich auf mehr als 1.000 hoch. Und zwar unter anderem, weil man 2018 dazu übergegangen sei, die Fälle digital zu erfassen, statt wie zuvor per Hand auf einem Bogen, erklärt die Behörde diesen Sprung. Die Zahlen sind also schlecht zu vergleichen und tragen auch deshalb nur bedingt dazu bei, sich ein valides Bild von der Lage zu machen.
Erkenntnisse zur Arbeit der Jugendämter
Unnütz sei die Statistik trotzdem nicht, denn "sie enthält ganz wichtige Erkenntnisse darüber, wie die Jugendämter handeln, wenn ihnen entsprechende Hinweise bekannt werden", so der Statistik-Experte. Auch, wer einen Verdacht an die Behörden meldet, sei dort abzulesen, denn das wird ebenfalls erfasst.
Statistik kann nicht alles leisten
Als singuläres Mittel, um ein genaues Bild von der Situation der Kinder in Nordrhein-Westfalen zu bekommen, ist Statistik also nicht geeignet. Für einen Überblick braucht es mehr Quellen. Kinderschutzorganisationen wie der Kunderschutzbund fordern deshalb unter anderem so genannte Dunkelfeldstudien ein.
Also Studien, die so ausgelegt sind, dass sie – beispielsweise über Befragungen an Schulen – auch Fälle ans Licht bringen, die bislang nirgends in den offiziellen Berichten auftauchen. Denn, so Nicole Vergien vom Kinderschutzbund: "Die Dunkelziffer ist unheimlich hoch. Viele Fälle sexualisierter Gewalt oder psychischer oder körpericher Gewalt finden im familiären Nahraum statt und niemand bekommt davon etwas mit."
Alle Fraktionen sehen Handlungsbedarf
In den vergangenen Jahren hat die Politik in Nordrhein-Westfalen tatsächlich schon eine Menge für einen verbesserten Kinderschutz getan. Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärt immer wieder: "Seit einigen Jahren steht der Kampf gegen Kindesmissbrauch für die NRW-Polizei ganz oben auf der Agenda." Jugend- und Familienministerin Josefine Paul (Bündnis 90/Die Grünen) ist sich sicher, dass Kinderschutz als wichtiges Thema erkannt wurde. Das fraktionsübergreifend beschlossene Landeskinderschutzgesetz, das im Mai 2022 in Kraft getreten ist und das stärkste Kinderschutzgesetz Deutschlands darstelle, sei dafür ein deutliches Zeichen.
Aber damit wolle und könne man nicht aufhören – darüber herrscht Einigkeit in allen Fraktionen. Der familienpolitische Sprecher der SPD, Dennis Maelzer, forderte, die aktuelle Statistik genauer auszuwerten: "Wir müssen wissen, ob der Höchststand an Meldungen auf ein gestiegenes Bewusstsein oder auf einen tatsächlichen Anstieg der Gewalt und Gefährdungen zurück zu führen sind. Darum braucht es jetzt eine unabhängige Studie, um das aufzuklären."