Fahrt aufgenommen hat der Zoff, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Unternehmertag NRW am vergangenen Mittwoch erklärt hatte, es werde keinen Extra-Strompreis für die Industrie geben. Ein "schuldenfinanziertes Strohfeuer", das die Inflation wieder anheize oder eine "Dauersubvention von Strompreisen mit der Gießkanne" könne sich Deutschland nicht leisten, sagte der Kanzler. "Das wäre ökonomisch falsch, fiskalisch unsolide und würde sicherlich auch falsche Anreize setzen."
Vielmehr wolle die Bundesregierung in neue Infrastruktur für die Erneuerbaren Energien investieren - in Stromnetze auch für Wasserstoff etwa. Je mehr hier geschehe, desto eher könne der Strompreis "Schritt für Schritt" gedrückt werden.
"Allianz pro Brückenstrompreis"
Die Unternehmer waren geschockt - und erhöhten nun den Druck: Am Freitag veröffentlichten Verbände und Gewerkschaften der energieintensiven Industrien eine gemeinsame Erklärung. Darin fordern sie eine schnelle Entscheidung für einen "Brückenstrompreis". Diese selbsternannte "Allianz pro Brückenstrompreis" vertrete insgesamt mehr als 1,1 Millionen Beschäftigte in über achttausend Unternehmen, heißt es in der Erklärung. Für sie sei es "fünf vor zwölf", es drohten Verlagerungen, Standortschließungen und der Verlust von Arbeitsplätzen.
Bis es ausreichend Strom aus erneuerbaren Energien gebe, sei ein wettbewerbsfähiger, zeitlich begrenzter Brückenstrompreis notwendig, heißt es in dem Schreiben weiter. Vor allem der Bundeskanzler solle nun klar Stellung beziehen.
Neues Konfliktpotential in der Ampel-Koalition also. Denn Scholz' eigener Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist klar für einen Brückenstrompreis von sechs Cent je Kilowattstunde für besonders energieintensive Betriebe - zumindest für eine Übergangsphase. FDP-Bundesfinanzminister Christian Linder wiederum lehnt eine solche Ermäßigung ab.
Bunte Gemengelage
Währenddessen ist sich die schwarz-grüne Regierung in NRW einig. Die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur sagte am Freitagmorgen im Deutschlandfunk, sie betrachte die ablehnende Haltung des Bundeskanzlers als "destruktiv". Er gefährde damit "in höchstem Maße" den Industriestandort NRW.
In "vielen Gespräche mit kleinen und großen Unternehmen" habe sie verstanden, dass die Planbarkeit der Energiekosten das drängendste Problem der Betriebe sei. Dabei gehe es nicht um einzelne Konzerne, sagte Neubaur: Jeder achte Erwerbstätige in NRW sei im Industriebereich beschäftig. 50 Prozent der Bruttowertschöpfung komme aus der Industrie. "Wir haben ein gesellschaftliches Interesse" - deswegen sei Scholz' Absage für sie nicht nachvollziehbar. Und: "Wenn in NRW die Industrie in die Knie geht, dann hat auch die Bundesrepublik ein riesiges Problem."
Wüst: Scholz hält sein Wort nicht
Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) geht noch weiter auf Konfrontation mit der Bundesregierung: In der "Rheinischen Post" warf er dem Bundeskanzler vor, sein Wort nicht zu halten. Noch im Wahlkampf 2021 habe Scholz der Industrie einen Sonderstrompreis von vier Cent versprochen. Diese Zusage habe er nun "auf bemerkenswerte Art und Weise wieder zurückgenommen".
Tatsächlich hatte Scholz auf einer Rede vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie in Berlin im Juni 2021 gesagt: "Mein Ziel ist ein Industriestrompreis von vier Cent." Die deutsche Industrie müsse sich darauf verlassen können, dass die Bundesregierung die Rahmenbedingungen schafft, die sie für ihren Erfolg benötige. So zitierte ihn damals die SPD-Parteizeitung "Vorwärts".
Scholz mache "der deutschen Industrie ein Angebot", zitiert der Bericht den damaligen Kanzlerkandidaten Scholz weiter: "Der Staat baut eine verlässliche Brücke, damit Sie, die Unternehmen, auf Klimaneutralität setzen können, auch dann, wenn die neuen Verfahren und Technologien noch nicht unmittelbar rentabel sind." Die Mehrkosten werde der Staat ausgleichen.
"Wenn ein Bundeskanzler im Wahlkampf einen Industriestrompreis von vier Cent verspricht, und dann überhaupt nichts in der Richtung liefert, dann verliert er das Vertrauen der Wirtschaft und der Menschen in NRW", sagt Christian Untrieser, industriepolitischer Sprecher der CDU im Landtag.
SPD: Landesregierung muss "aus dem Quark" kommen
SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott scheint diese Ankündigung noch im Ohr zu haben. Gemeinsam mit SPD-Bundestagsabgeordneten aus NRW wolle er sich bei der Bundesregierung für einen vergünstigten Industriestrompreis stark machen, kündigte Ott an. Es gehe um eine "Notfallhilfe", die mit der klaren Verabredung verbunden sein müsse, dass die nötigen Stromtrassen für Windkraft rasch genehmigt werden.
Er könne Bundeskanzler Scholz aber verstehen, sagte Ott dem WDR. "Wenn man im Norden oder im Osten Unternehmen subventionieren soll, damit sie weniger Strom einspeisen, und im Westen und Süden Unternehmen subventionieren soll, weil der Strom zu teuer ist, dann macht das kaum Sinn." Dennoch sei er für einen Brückenstrompreis, weil Schwarz-Grün in NRW es nicht schaffe, den Leitungsausbau so zu beschleunigen, dass der Strompreis im Westen sinkt. Wenn die Landesregierung "endlich aus dem Quark käme", dann bräuchte es einen ermäßigten Strompreis nicht, so Ott.
FDP: "Irrweg", zum Scheitern verurteilt
Die FDP-Landtagsfraktion hält die Idee eines Industriestrompreises für einen "Irrweg". Selbstständige und kleine Betriebe sollten "den Industrieunternehmen nicht den Strompreis mitbezahlen" müssen, sagt der Vorsitzende Henning Höne. "Wir sind fest davon überzeugt, dass es zum Scheitern verurteilt ist, die Auswirkungen einer verfehlten Politik durch mit Steuergeld finanzierte Förderprogramme auszugleichen."
Die aktuellen Strompreise
Laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft liegt der Industriestrompreis hierzulande im bisherigen Jahresschnitt 2023 bei 26,5 Cent pro Kilowattstunde - mit Steuern und Umlagen. Im Jahr 2021 lag er bei gut 21 Cent pro Kilowattstunde. Nach Vorstellung des Unternehmerverbands NRW sollte der Strompreis für die Industrie zwischen vier und sechs Cent pro Kilowattstunde liegen. Normalverbraucher zahlen laut dem Vergleichsportal Verivox derzeit rund 29 Cent pro Kilowattstunde.
Energieexperte: Brückenpreis ja - aber nur für ausgewählte Unternehmen
Sind beim aktuellen Strompreis tatsächlich so viele Unternehmen und Arbeitsplätze in NRW gefährdet? Die energieintensive Industrie in Deutschland und NRW stünden unter hohem Wettbewerbsdruck, sagt Manfred Fischedick, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Ein entscheidender - aber nicht der einzige - Aspekt dabei: die hohen Energiepreise, die andernorts, vor allem in China, den USA, in Japan, deutlich geringer seien. Durch den Krieg in der Ukraine habe sich dieser Wettbewerb noch verschärft.
Gleichzeitig sei gerade auch die energieintensive Industrie "eine ganz entscheidende Größe in Bezug auf die Sicherung von Beschäftigung". Durch die hohe Forschungsintensität der Branche habe sie zudem "ein gehöriges Zukunftspotential", so der Energieforscher. Aus volkswirtschaftlicher Sicht sei es daher sinnvoll und notwendig, ein starkes Industrieland zu bleiben. "Eine einmal abgewanderte Branche kommt nicht zurück", warnt Fischedick.
Für einen Übergangszeitraum könne ein Industriestrompreis helfen. "Er sollte allerdings nicht unreflektiert mit der Gießkanne zur Anwendung kommen." Vielmehr sollten nur solche Unternehmen profitieren, "die eine klare Transformationsagenda haben und sich nachvollziehbar und überprüfbar auf dem Weg in Richtung klimaneutraler Produktionsstrukturen machen".