Cihad Kefeli vom Bündnis Islamischer Gemeinden in Bielefeld ist der Unglaube darüber, was der Hicret-Moscheegemeinde im Stadtteil Brackwede passiert ist, immer noch anzumerken. "Ich habe mich wirklich einfach nur gefragt: Warum? Also - womit haben wir das verdient?"
Was Kefeli mit "das" meint: Die Moscheegemeinde erhielt im Dezember und Februar massenhafte ungewollte Essenslieferungen per Lieferdienst - jemand hatte sie an die Adresse der Moschee bestellt. Im Rechnungszettel der Bestellungen standen dann Hassbotschaften. Widerlichste Beleidungen bis hin zu Morddrohungen.
Islamfeindliche Straftaten mehr als verdoppelt
Eine Straftat, die Aufsehen erregte. Die aber keinen Einzelfall darstellt. Zahlen aus dem NRW-Innenministerium, die auf Anfrage der WDR-Redaktion COSMO bereitgestellt wurden, zeigen: Im vergangenen Jahr wurden in NRW so viele islamfeindliche Straftaten erfasst wie noch nie, seit es die entsprechende Statistik gibt.
Als "islamfeindlich" gilt eine Straftat dann, wenn es Anhaltspunkte für eine Feindseligkeit gegen Muslime oder gegen den Islam als solchen gibt - seit 2017 werden diese Straftaten als eigenes Feld der politisch motivierten Kriminalität in NRW erfasst. Nun der Höchststand: Es wurden im vergangenen Jahr 269 islamfeindliche Straftaten im Land registriert. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor (133). Damit entspricht die Entwicklung in NRW ungefähr dem Trend für Gesamtdeutschland: Laut der Statistik des Bundeskriminalamts beträgt der Anstieg bei erfassten islamfeindlichen Straftaten für 2023 im Vergleich zum vorherigen Jahr 140 Prozent.
Häufung nach dem 7. Oktober
Was bei den NRW-Zahlen auffällt: Mehr als ein Drittel der erfassten islamfeindlichen Straftaten für das vergangene Jahr entfällt auf den Zeitraum zwischen dem 7. Oktober und dem 31. Dezember. Es lässt sich also vermuten, dass die Ereignisse vom 7. Oktober, der terroristische Hamas-Angriff auf Israel und die folgenden Entwicklungen, nicht nur antisemitische Straftaten, sondern auch islam- und muslimfeindliche Taten befeuert haben.
In absoluten Zahlen wurden in NRW im vergangenen Jahr mehr antisemitische (547) als islamfeindliche Straftaten (269) erfasst. Der prozentuale Anstieg im Vergleich zum Vorjahr ist bei islamfeindlichen Straftaten größer. Für beide Bereiche gehen Expertinnen und Experten von einem großen Dunkelfeld aus - also Taten, die nicht der Polizei gemeldet werden.
Wie empfinden Muslime in NRW derzeit selbst ihre Situation?
Bei den Recherchen zeigten sich Betroffene in der muslimischen Community sehr zurückhaltend gegenüber den WDR-Reportern. Die, die sich auf ein Gespräch über das Thema einlassen, berichten von einer angespannten Lage. So wie Meryem Can, Mitarbeiterin beim Verein "Muslimisches Jugendwerk" in Dortmund: "Wir nehmen eine große Sorge wahr, das auf jeden Fall. Wir bekommen auch persönliche Übergriffe mit." Sie erzählt von einer Kopftuch tragenden Freundin. Diese sei kurz nach dem 7. Oktober von einem Mann beschimpft und bis zu ihrem Auto verfolgt worden. Mehrere Menschen hätten die Szene beobachtet - ohne einzuschreiten.
Amira Amazough lebt in Dortmund, sie hat gerade ihr Abitur abgelegt. Sie sagt im Gespräch mit dem WDR: "Ich finde, dass sich nach dem 7. Oktober ein Feindbild etabliert hat. Dass ein Muslim automatisch auch Antisemit ist. Was absolut nicht stimmt!"
Dass der Israel-Palästina-Konflikt Auswirkungen auf die Muslimfeindlichkeit in NRW hat, sieht auch Cihad Kefeli so. In den Hassbotschaften die per ungewollter Essenslieferung die Hicret-Moschee erreichen sind heftigste Gewaltphantasien gegenüber Palästinensern enthalten. Oft würden Muslime als Stellvertreter der Hamas betrachtet, würden mit Terroristen und Verbrechern in einen Topf geworfen.
Moschee bekommt die Drohung: "Dönermord wird Volkssport"
Die ungewollten Essenslieferungen an die Hicret-Moschee erhielten im Februar neben Beleidungen auch Morddrohungen in den Bestellzetteln. Kefeli erinnert sich: "Es waren deutlich mehr Lieferungen [als im Dezember, Anm.d.Red.]. Es hat sich eine Fahrzeugkolonne gebildet vor der Moschee. Und die Hassbotschaften waren schlimmer. Dieses Mal war der NSU-Bezug da." Die Hassbotschaften enthielten unter anderem den Spruch "Dönermord wird Volkssport". Bevor der rechtsextreme Hintergrund der NSU-Mordserie bekannt war, haben manche Medien diese verharmlosend als "Döner-Morde" bezeichnet.
Das Landeskriminalamt teilte Mitte Februar mit, dass hunderte Fälle in NRW bekannt seien, in denen Moscheen via ungewollter Essenslieferungen Hassbotschaften erhielten. Offenbar handelt es sich um eine geradezu professionelle Masche eines Täters oder mehrerer Täter.
Was unternehmen gegen Muslimfeindlichkeit?
Meryem Can aus Dortmund wünscht sich eine stärkere Solidarität aus der Gesellschaft - und dass die Anfeindungen ernst genommen werden. "Wir nehmen wahr, dass antimuslimischer Rassismus noch nicht so präsent ist. Dass wir noch sehr viel Arbeit reinstecken müssen, damit das anerkannt ist." Entsprechend sei es insbesondere wichtig, dass politische Entscheiderinnen und Entscheider Muslimfeindlichkeit in den Blick nehmen.
Der WDR hat bei allen 16 Bundesländern abgefragt, ob die jeweilige Landesregierung einen eigenen Beauftragten gegen Muslimfeindlichkeit hat oder plant, so einen Posten einzurichten. Ergebnis: Kein Bundesland hat so einen Beauftragten, keines plant derzeit, einen solchen Posten zu schaffen. Zudem wurde abgefragt, ob eine vom Land eingerichtete oder geförderte Meldestelle existiert, die spezifisch muslimfeindliche Vorfälle erfasst. Auch hier das Ergebnis: 0 von 16.
Meldestelle für "antimuslimischen Rassismus": NRW mit Sonderrolle
NRW nimmt hierbei allerdings eine besondere Rolle ein: Es ist das bislang einzige Bundesland, das angekündigt hat, eine vom Land geförderte Meldestelle dezidiert gegen "antimuslimischen Rassismus“ einzurichten. Bei dieser sollen auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze gemeldet werden können – wenn beispielsweise jemand gegenüber einer Frau, die Kopftuch trägt, eine abfällige Bemerkung macht, diese aber nicht strafbar ist. NRW-Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne), in deren Verantwortung der Aufbau der Meldestelle fällt, sagte dazu: "Es zeigt sich, glaube ich, sehr deutlich, dass wir ein erhebliches Dunkelfeld haben bei Diskriminierungen und dass wir genau solche Meldestellen brauchen, um das Dunkelfeld auszuleuchten."
Allerdings: Angekündigt wurde die Meldestelle schon vor zweieinhalb Jahren, damals noch unter einer schwarz-gelben Landesregierung - als Reaktion auf Grabschändungen auf einem muslimischen Friedhof in Iserlohn. Seit zwei Jahren ist Josefine Paul als Integrationsministerin zuständig. Eine Sprecherin ihres Ministeriums teilte dem WDR auf Anfrage mit: Dass sich der Aufbau immer noch hinzieht, liege insbesondere an "Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit", die "noch nicht abschließend beantwortet werden konnten". Wann die Meldestelle ihre Arbeit aufnehmen wird - dazu gibt es keine konkrete Anwort.
Dass die Meldestelle bald startet wirkt unwahrscheinlich, ein für den Aufbau mitzuständiger Verein hat erst vor Kurzem einen neuen Job für den Projektaufbau ausgeschrieben. Gleichzeitig läuft die Landesförderung für den Aufbau der Meldestelle in etwa sechs Monaten aus.
Wunsch nach mehr Austausch
Wie können Vorurteile abgebaut werden - und wie vernünftige Kritik an Ausprägungen des Islams sinnvoll geäußert werden? Amira Amazough aus Dortmund würde beispielsweise einen stärkeren Austausch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen begrüßen, in dem es dezidiert um das Muslimisch-Sein geht. "Ich glaube, da freuen sich Muslime auch extrem, wenn interessierte Nicht-Muslime sagen: Okay, worum geht es im Islam? Was macht man in der Moschee? Wie betet man, was sind die Werte?" Viele der Muslime, mit denen der WDR im Rahmen der Recherche sprechen konnte, betonen, dass im Austausch auch kritische Fragen zu Ausprägungen und Interpretationen des Islams völlig in Ordnung seien.
Angemessene Religionskritik vs. Muslimfeindlichkeit: Wo liegt die Grenze?
Dies berührt eine grundsätzliche Frage: Was ist Kritik, die man am Islam - wie an allen Religionen - üben können muss in einer liberalen Demokratie – und wo beginnt problematische Muslimfeindlichkeit? Für Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrumts für Islamische Theologie an der Universität Münster, ist dabei entscheidend, ob es zu Pauschalisierungen kommt. "Eine Aussage wie beispielsweise 'Muslime sind rückständig und haben ein veraltetes Frauenbild' wird der Realität nicht gerecht".
Die etwa 5,5 Millionen Muslime in Deutschland sind Menschen mit unterschiedlicher Herkunft und Prägung, die den Islam entsprechend unterschiedlich ausleben. Eine differenzierte Kritik könnte laut Khorchide entsprechend so aussehen: "Man kann sagen: 'Es gibt Auslegungen im Islam, die frauenfeindlich sind. Es gibt Auslegungen im Islam, die antisemitisch sind, es gibt Stellen im Islam, die als gewaltbejahend gelesen werden können' Das ist eine differenzierte Sicht. Die Betonung: Man kann sie so lesen. Das heißt: Man kann sie auch anders lesen."
Experte fordert offene, ehrliche Gespräche
Für Khorchide sind mehrere Ziele wichtig: Unbegründete Ängste und Vorurteile gegenüber Muslimen in Deutschland und NRW abbauen ist eines davon. Aber er betont auch: Man dürfe sich mit berechtigter Kritik an Organisationen des politischen Islams nicht zurückhalten, wenn diese eine solche Kritik als "Rassismus" zurückweisen. "Mit solchen Vorwürfen wird seitens dieser Organisationen immer wieder versucht, sich gegen Kritik zu immunisieren." Am Ende bestehe der beste Weg gegen Muslimfeindlichkeit aus vielen offenen, ehrlichen Gesprächen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen - über Vorurteile gegenüber Muslimen, aber auch über Islamismus.
Vieles habe sich im Diskurs zwischen der muslimischen Community einerseits und der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft in den vergangenen zehn Jahren bereits verbessert, findet Khorchide. Integrationsministerin Josefine Paul sieht dies ähnlich: Wenn man über muslimisches Leben in NRW spricht, dann sei es wichtig, nicht nur Muslimfeindlichkeit in den Blick zu nehmen. Sondern auch zu sehen: In vielen Punkten seien Muslime und islamische Gebräuche bereits ganz normale Bestandteile im multikulturellen NRW.
Die Ministerin betont entsprechend, dass Präventionsprogramme für die Jugend ihr besonders wichtig seien - gegen Muslimfeindlichkeit, aber auch gegen Antisemitismus. Damit sich Vorurteile gar nicht erst festsetzen können. Und sie sagt: "Auch muslimische Menschen in diesem Land leisten einen großen Beitrag für diese Gesellschaft, auf unterschiedliche Art und Weise. In Migrantenselbstorganisationen, in Moscheen, aber auch im Sportverein nebenan." Es sei wichtig, dass die Bevölkerung dieses Engagement erkenne - auch, damit Musliminnen und Muslime in NRW sich "als selbstverständlichen Teil dieser Gesellschaft" sehen können.
Unsere Quellen:
- Zahlen zur Islamfeindlichkeit aus dem NRW-Innenministerium gegenüber WDR Cosmo
- BKA-Statistik zu Politisch Motiverter Kriminalität 2023
- Gespräch mit Cihad Kefeli vom Bündnis Islamischer Gemeinden in Bielefeld
- Gespräch mit Meryem Can, Mitarbeiterin beim Verein "Muslimisches Jugendwerk" in Dortmund
- Gespräch mit Amira Amazough und anderen Musliminnen und Muslimen aus NRW
- NRW-Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne)
- Sprecherin NRW-Integrationsministerium
- Angaben der Landesregierungen aller 16 deutschen Bundesländer gegenüber WDR Cosmo zu Beauftragten und Meldestellen
- Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrumts für Islamische Theologie an der Universität Münster
Redaktionelle Mitarbeit: Melisa Gürleyen