Julia Schoch: Wild nach einem wilden Traum
dtv, 2025.
176 Seiten, 23 Euro.
"Jedes Menschenleben ist angefüllt mit Geschehnissen, die in den Falten des Gedächtnisses lagern. Und in jedes einzelne Geschehnis hineingefaltet sind noch weitere."
Das schreibt Julia Schoch etwa in der Mitte ihres autofiktionalen Romans. Mit einem solchen Geschehnis, zu dem die Ich-Erzählerin erinnernd zurückkehrt, hebt das Buch an. Als Schreibstipendiatin an der amerikanischen Ostküste, fern von zu Hause und von ihrem Mann, beginnt sie eine leidenschaftliche Affäre mit einem Schriftsteller aus Spanien.
Doch Julia Schoch hat zum Abschluss ihrer Trilogie "Biographie einer Frau" keinen konventioneller Liebesroman vorgelegt. Von dem Liebhaber, der nur der Katalane genannt wird, und von der Liebesbeziehung wird so zurückhaltend und spärlich erzählt, dass man sich kurz fragt, warum der Roman überhaupt mit der Affäre anhebt. Aber rasch wird klar, worum es der Autorin vor allem geht.
O-Ton Schoch:
"Der Katalane und auch noch andere Männer, die in dem Buch auftauchen, sind im Grunde nur wie ein Sprungbrett oder wie ein Antreiber, um in die Literatur zu kommen. Die treiben das Ich nicht nur in der Erinnerung um, sie treiben sie auch in die Literatur tatsächlich. Und da findet das Eigentliche statt: das Erinnern und das Erzählen und überhaupt das Erschaffen überhaupt von Erinnerung. Es ist ja nicht so, dass die Erinnerungen nur aufgeschrieben werden. Sie baut sich ja auch die Erinnerungsräume."
Die Erinnerung an den Katalanen und die mit der Begegnung verbundene Entscheidung, die Stelle an der Universität aufzugeben und freie Schriftstellerin zu werden, setzt andere, weiter zurückliegende Bilder und Szenen frei. Julia Schoch geht diesen Erinnerungen in einem tastenden Schreiben nach und befragt sie zugleich.
O-Ton Schoch:
"Wir erinnern uns nicht wahllos und sind nicht völlig chaotisch, sondern unsere Erinnerungen gehen wahrscheinlich sogar ziemlich gezielt zu bestimmten Momenten unseres Lebens zurück. Und dann darf man sich fragen: Warum?"
Der amerikanische Ostküstensommer und die menschenleere Landschaft im Hudson Valley nördlich von New York wecken Erinnerungen an Kindheitssommer in Mecklenburg am Oderhaff. Als Heranwachsende begegnet die Ich-Erzählerin hier in einem Wald einem Soldaten. Der nachdenkliche, belesene junge Mann hat ein Buch dabei: "Der Ekel" von Sartre. Ihm gesteht das Mädchen, was sie noch keinem verraten hat: Dass sie später einmal Bücher schreiben will. Er warnt sie, Schreiben sei eine einsame Tätigkeit und Künstler taugten nicht für das Leben. Aber er ermutigt sie auch.
"Ich bin sicher, du schaffst es, bestimmt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum."
Der wilde Traum, den Julia Schoch ins Zentrum rückt, die Sehnsucht und Leidenschaft, von der ihre Erzählerin angetrieben wird, ist das Schreiben. Zugleich räsoniert die Frau jedoch auch immer wieder darüber, wie die Arbeit am Schreibtisch dem gemeinsamen Leben mit ihrer Familie in die Quere kommt. Sie erinnert sich daran, wie sie die störenden Kinder wütend zurechtweist.
"An diesem Tag, und an einigen anderen auch, hasste ich die Literatur dafür, dass sie mich dazu brachte, meine Kinder anzuschreien. Wie konnte das Schreiben besser, wichtiger sein als das Leben, wenn man das wirkliche Leben verscheuchen musste dafür?"
Dann aber notiert sie, wer die Erfahrung mache, beim Schreiben ganz bei sich sein zu dürfen, der könne nie mehr ganz bei den anderen sein. Und fügt hinzu: "Ich habe mich bei lebendigem Leib in Schrift verwandelt." Auch die Kommunikation mit ihrem Mann wird spärlicher.
"Ich glaube, damals, nach meiner Rückkehr, setzte sich ein Gedanke in mir fest. Auf einmal war ich überzeugt, dass die Stummheit, die Wortlosigkeit in der Liebe, die Kehrseite des Schreibens ist. Die Worte müssen ungleich verteilt sein, dachte ich. Dass sie, wenn man sie beim Schreiben hervorbringen will, woanders fehlen müssen. Aber ich dachte es nicht triumphierend. Es schien mir eher ein Scheitern zu sein."
Aber das ist nicht das letzte Wort dieser bohrenden und faszinierenden Selbsterforschung. Am Ende steht die Einsicht, dass die Menschen ohnehin auf ewig getrennt sind und dass die Liebe die Stummheit einschließt. Dies erscheint nicht als deprimierender, sondern als versöhnlicher Gedanke – gepaart mit dem Wissen darum, dass "das Leben ein Stolpern von einem zuversichtlichen Moment zum nächsten" ist.
Dieser kluge, komplexe, das eigene Leben mit großer Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit ergründende Roman hebt die Erinnerungen an diese Momente auf.