Noémi Kiss: Der Nebelmann. Geschichten von der Donau
Aus dem Ungarischen übersetzt von Eva Zador.
danubebooks, 2024.
164 Seiten, 22 Euro.
Die ehemalige Leistungsschwimmerin Noémi Kiss liebt es, Geschichten zu erzählen, die am Wasser spielen. Vor ein paar Jahren war es das ungarische Meer, der Plattensee, das in "Balaton Novellen" im Mittelpunkt stand. Jetzt ist es die Donau. 22 kurze, zeitlose Erzählungen sind in "Der Nebelmann" versammelt. Meist geht es um ein kleines Dorf auf einer Donaulandzunge und das einfache Leben der Menschen, hier am und mit dem Fluss. Kaum vorstellbar, dass Budapest nur eine Autostunde entfernt ist. Die Donau ist ein magischer Anziehungspunkt, auch für die Erzählerin, die in ihr das Schwimmen erlernte. Doch sie ist auch gefährlich, vor allem bei Hochwasser.
"Der Fluss schmatzte und brodelte, achtete weder Gott noch die Dorfbewohner, er machte keinen Unterschied, das schäumende, über die Ufer tretende Wasser wälzte sich gleichermaßen über jeden. Die Krallen der Wellen waren scharf. Der Fluss nahm das Bett mit, den Tisch, die Wiege, die Speisekammer, die Tiere, die Gerätschaften, den Karren, die Ernte, den Brunnenring, die Tränke."
Die Donau: Fluch und Segen zugleich für ihre Anwohner. Und in Zeiten des Klimawandels nimmt der Fluch, sprich, nehmen die Fluten immer mehr zu. In den Geschichten aber stehen die Menschen und ihre teils wundersame Verbindung mit dem Wasser im Mittelpunkt. So der dünne "Schlacks", der es schafft, in der Erzählung "Der reißende Fluss" über die Donau ans andere Ufer zu gelangen und dort am liebsten das Leben des Robinson Crusoe leben möchte.
Vor allem auf die Kinder übt die Donau eine große Anziehungskraft aus. Insbesondere im Winter, der Jahreszeit, in der die meisten Erzählungen spielen; der Winternebel und das Gefühl der Angst, das er verbreiten kann. In der Titelgeschichte lebt Eduard, der "Nebelmann", ein Eremit, direkt am Ufer. Er umarmt Tiere, weil er sie lieber mag als Menschen. Dieser Nebelmann lehrt besonders im Winter den Dorfbewohnern das Fürchten.
"Hin und wieder löste sich dieser Eduard einfach im Nebel auf. Nichts und niemand konnte er sein, unsichtbar, und das machte ihn noch gefährlicher. Sein Verschwinden war beängstigend. Wenn er dann mit einem Mal wieder auftauchte, aus dem Nebel hervortrat, sprühten seine Augen Funken."
Es sind geheimnisvoll und unheimlich wirkende Bilder, in denen Noémi Kiss diese so abgeschiedene und aus der Zeit zu fallende Welt beschreibt. In "Das neidische Mädchen" wird ein Mädchen zum "Nebel".
"Der Nebel hatte mich verschlungen, mit Haut und Haar war ich in seinen Schlund, in seinen Magen hineingetrieben. Ich schwebte. Sehnte mich nicht mehr zu den Menschen zurück. Meine Haut hatte sich völlig verändert, die Knochen waren mit dem Nebel verwachsen. Der Nebel packte mich, streichelte mich, immer stärker, würgte mich fast."
Diese Erzählung ist die vielleicht stimmungsvollste, melancholischste Geschichte des Bandes, aber nicht die einzige, die auch von der Vereinsamung der Menschen handelt. Die klimatischen Veränderungen bedrohen das Leben. Besonders in „Frau Holle kehrt zurück“, wenn Frau Holle die ersten Schneeflocken bringt, was immer seltener passiert, denn
"Frau Holle mag die globale Erwärmung nicht."
Also kommt Frau Holle auf die Erde, um den Menschen beiseite zu stehen im Kampf gegen die Klimakrise. Doch sie lehnen die Hilfe ab. Besonders die Städter wollen ihr Leben nicht ändern, trotz aller Hitzerekorde in Budapest. Frau Holle beschließt, nie wieder "Schneeflocken auf Städte rieseln zu lassen". Den Zusammenhalt und die Existenz des kleinen Dorfes, dieser geheimnisvollen Community an der Donau, in der auch immer wieder der eine den anderen bekriegte, rettet auf wundersame Weise ein zugezogener Bäcker, in der Erzählung "Ein Bäcker aus dem Nichts". Sein Brot, seine Kakaoschnecken und Buchteln befrieden das Leben im Dorf, mehr noch:
"Das Hochwasser blieb aus, der Krieg rückte in weite Ferne. Vielleicht wurde sogar Frieden geschlossen. Wer weiß, unser Dorf ist der Welt entrissen."
In den 22 Erzählungen beschreibt Noémi Kiss einerseits sachlich und nüchtern den schweren, harten Dorfalltag, das Leben am Existenzminimum, andererseits vermischt sie diese Beschreibungen auf einzigartige Weise mit fantastisch, ja märchenhaft anmutenden Bildern, die den Leser von "Der Nebelmann" in eine melancholische Stimmung versetzen können.