Michael Köhlmeier: Die Verdorbenen
Hanser, 2025.
160 Seiten, 23 Euro.
Warum verliebt ein Mensch sich eigentlich? Weil er von den anderen Menschen und aus Filmen und Büchern und Liedern weiß, dass Verlieben das größte ist, was das Leben so vorsieht. Alles, und vor allem die langen, ziellosen Tage der Jugend laufen darauf hinaus, sich zu verlieben. Der Held des neuen Romans von Michael Köhlmeier ist wieder eine von diesen typischen Köhlmeier-Figuren, aufmerksam bis zur Paranoia, aber doch eben auch verdorben und verloren und gefüllt mit Langeweile, die jederzeit überlaufen und zur verhängnisvollen Tat werden kann.
Johann ist Anfang der 1970er Jahre Student in Marburg. Er will schreiben, er bewegt sich zwischen den Texten von Freud, Marx und Balzac, hat erste Kontakte zum Rundfunk und ist doch ohne Halt, ohne Ziel, ohne Glauben. Seinen Vater nennt er beim Vornamen, was weder herzlich noch rebellisch gemeint ist, sondern eher als ein Akt der Gleichgültigkeit.
"Ich war ein junger Mann, der aus einer Laune heraus beschlossen hatte, eine klassenkämpferische Miene und schwarze Lederkleidung für Maske und Kostüm zu halten, die im Karneval der Geschlechter anziehend wirkten; aber ich kannte die Welt nicht, von nichts in ihr hatte ich eine Ahnung, weder vom Klassenkampf noch von der Liebe – da war Staunen leicht. Wer in allem nur sich selbst sieht, kann angesichts der Welt nur staunen."
Die Welt bringt also doch etwas in ihm zum Klingen, sonst würde er die Welt nicht bestaunen. Er wartet, er weiß bloß nicht, worauf. Und da, mitten hinein, in dieses Nichts, bietet ihm Christiane die Liebe an, oder zumindest den Sex. Dafür will sie sogar ihren Freund Tommi verlassen, und nun beginnt eine Köhlmeier so locker wie genau gesponnene Dreier-Geschichte, die von der Liebe handeln könnte und doch nur von der Verdorbenheit spricht. Weder haben sich der Ich-Erzähler noch Christiane tatsächlich verliebt, noch haben sich Christiane und ihr Ex-Freund wirklich getrennt, noch sagt einer dem anderen jemals die Wahrheit. Wie auch, sie kennen sie ja selbst nicht.
So jung diese drei Figuren auch sind, so hingebungsvoll werfen sie sich in die eigenen Abgründe und Tragödien. Fast scheint es, als sei dieses gegenseitige Hinhalten und Verletzen nur ein Spiel, aber doch jenes einzige Spiel, das die drei von ihrer Verlorenheit und Langeweile erlösen kann.
"Wir schliefen zu dritt unter zwei Decken. Der lange Tommi lag unten quer bei unseren Füßen. Christiane und ich krümmten uns oben ineinander, die Beine angezogen, damit wir ihn nicht berührten, ich in ihrem Rücken. Eine Schulter wollte sie frei haben, die war kühl und glatt, ich spürte sie an meinen Lippen und meiner Wange, mein Arm umschlang sie, meine Hand klemmte in ihrer Achselhöhle. In der Nacht, in Tommis naher Gegenwart, wachten wir auf und trieben es ein bisschen miteinander. Wir meinten, er merke es nicht."
Der Autor Michael Köhlmeier ist ein genauer Beobachter und sicherer Roman-Konstrukteur, und wie immer legt er mal eine Schleife zu viel aus und lässt dafür woanders was ins Leere laufen. Ein wenig erinnert Johann, in seiner Ziellosigkeit, seiner hilflosen Brutalität, sogar an den Fremden von Albert Camus, vor allem dann, wenn er eher aus Zufall am Nordseestrand ein Verbrechen begeht.
"Ich wusste, dass ich die beiden letzten Schläge von der Seite, die Schläge gegen seine Schläfe, nicht hätte führen müssen. Der Schlag gegen die Stirn hätte genügt. Instinktiv hatte ich das Stuhlbein, oder was es war, in meiner Hand so gedreht, dass ich ihn mit einer Kante traf."
Es ist eine relativ einfache Konstellation, aus der heraus Michael Köhlmeier seine Erzählung vom Ende einer Jugend entwickelt. Aber mehr braucht es dafür auch nicht. Wie in den großen Romanen der französischen Existenzdeuter bewegen sich auch hier die Figuren zwischen Ohnmacht und Lebensentwurf, und immer dort, wo ein Ausweg oder ein Ziel aufleuchtet, geht’s doch nur in die nächste dunkle Gasse. Ein gutes Buch, das wir gern mitnehmen ins Literaturjahr 25.